Alfred Grundstein: Opfer der NS-Militärjustiz

Aufsatz erschienen mit Fußnoten im Gaismair-Jahrbuch 2009
Horst Schreiber

Soziale Benachteiligung und Armut

Alfred Grundstein wurde am 27. April 1900 im württembergischen Elbingen im Elternhaus seiner Mutter geboren. Kindheit und Jugend standen unter keinem guten Stern. Seine Herkunft wirkte sich äußerst benachteiligend für seinen weiteren Lebenslauf aus. In der Klassengesellschaft des Deutschen Kaiserreichs hafteten ihm zwei Makel an. Zum einen war seine Mutter Rosa Pauline Grundstein, „ledige Tochter des Johann Jakob Grundstein, Haarschneider, katholisch“, wie es in der Geburtsurkunde des kleinen Alfred hieß, Fabrikarbeiterin. Dies bedeutete harte Arbeit für einen kargen Lohn, der kaum zur Bestreitung eines notdürftigen Lebensunterhaltes reichte. Zum anderen kam er unehelich auf die Welt und lernte seinen Vater Valentin Chojnacki, der den Beruf eines Schmiedes ausübte, nie kennen. Der späteren Verheiratung seiner Mutter stand Alfred Grundstein äußerst distanziert gegenüber. Noch kurz vor seinem Tod machte er diese Ehe für seinen tragischen Lebensweg mitverantwortlich. Das Verhältnis zu seinem Stiefvater dürfte jedenfalls alles andere als herzlich gewesen sein. So verbrachte Alfred – die Mutter kam über den Beruf einer Hausangestellten nie hinaus – seine Kindheit an verschiedenen Pflegestellen. Darüber hinaus war er häufig krank, da er einer Mangelernährung ausgesetzt war. Die schlechte soziale Lage und die fehlenden Förderungsmöglichkeiten führten dazu, dass er nur drei Klassen Volksschule besuchte und dann in die Hilfsschule überwiesen wurde.

Eine Einberufung während des Ersten Weltkriegs blieb ihm erspart, da er infolge der gesundheitlichen Beeinträchtigung untauglich war. Noch zweieinhalb Jahre vor seiner Hinrichtung wurde sein körperlicher Zustand als „schwächlich“ bezeichnet. Bei 164 cm Größe wog er im November 1942 61,5 kg. Nach seiner Schulentlassung war Alfred Grundstein bis Ende 1918 als Hilfsarbeiter in einer Schuhfabrik tätig. Ab 1919 schlug er sich fast zehn Jahre lang mit Gelegenheitsarbeiten durch. Dazwischen war er immer wieder arbeitslos. Seine verzweifelte wirtschaftliche Lage ist auch darin ersichtlich, dass er 1922 und 1924 wegen Bettelns zu drei Tagen bzw. einem Tag Haft verurteilt wurde. 1925 erfolgte die Verhängung einer achtmonatigen Gefängnisstrafe, weil sein Versuch der Selbstständigkeit scheiterte und er Konkurs gegangen war. 1929 kam Alfred Grundstein ein Jahr lang in einer Spinnstofffabrik in Wilhelmsburg unter. Dann zog er nach Hamburg, wo er sich mit dem Briefmarkenhandel beschäftigte und einen kleinen Laden einrichtete. Seine Ehe mit Martha Magdalena Wellmann im Juli 1930 – Sohn Max wurde im selben Jahr geboren – wurde vier Jahre später wieder geschieden.

Von Danzig nach Innsbruck

1937 löste Alfred Grundstein sein Briefmarkengeschäft in Hamburg auf und zog für zwei Monate nach Danzig. In der Folgezeit besuchte er Briefmarkenausstellungen im Ausland, bis er sich schließlich Mitte Februar 1938 in der Karmelitergasse und dann in der Schlossergasse in Innsbruck niederließ. Einige Zeit nach der NS-Machtübernahme im März 1938 erhielt er beim NS-Gauverlag eine Stelle als Anzeigenbuchhalter.

In Innsbruck lernte er die 1909 in Raitis, Gemeinde Mutters, geborene Maria Schafferer kennen, deren Eltern eine kleine Bauernschaft führten. Als sie am 11. Dezember 1939 in der Probsteikirche St. Jakob in Innsbruck heirateten, war ihre gemeinsame Tochter Maria bereits ein Monat zuvor geboren. 1942 und 1943 kamen Elisabeth und Siglinde zur Welt, Tochter Rosa war im selben Jahr ihrer Geburt 1941 gestorben.

Die Familie lebte in beengten Verhältnissen in der Hohlgasse in Innsbruck. Sein Ansuchen um eine Anstellung im Staatsdienst bei der Heeres-Ersatz-Inspektion in Innsbruck blieb erfolglos. Am 1. April 1940 wurde der 40jährige Alfred Grundstein in das Wehrmeldeamt Innsbruck als Karteimittelsachbearbeiter einberufen und am 8. Dezember 1942 in die Streifenkompanie XVIII, Staffel II, Innsbruck, versetzt, wo er vor allem bei der Überwachung und Betreuung des Wehrmacht-Bahnverkehrs eingesetzt war. Am 1. Jänner 1942 wurde er zum Gefreiten, am 1. Juli 1943 zum Obergefreiten befördert. Die Grundausbildung hatte er ohne Waffe absolviert. Der Leiter des Wehrmeldeamtes beurteilte ihn als geistig sehr rege und attestierte ihm eine gute dienstliche Leistung, kritisierte aber seine fehlende Truppenausbildung und sein „starkes Geltungsbedürfnis“. Seinem letzten Vorgesetzten in der Streifenkompanie galt er, so das Reichskriegsgericht, „als ein sehr ruhiger und zurückhaltender Soldat mit undurchsichtigem Charakter (…), der im Dienst willig und an richtiger Stelle eingesetzt gut brauchbar war. Sein Auftreten und seine soldatische Haltung seien jedoch weniger gut gewesen. Er soll sich ‚gut’ geführt haben, bei den Kameraden aber nicht besonders beliebt gewesen sein.“

Antinationalsozialistische Betätigung und Verhaftung

Alfred Grundstein wurde am 17. Oktober 1944 um 18 Uhr aufgrund der Denunziation seines ehemaligen Arbeitskollegen bei der Bahnhofswache, Andreas Seeberger, von der Gestapo verhaftet und ins Polizeigefängnis in Innsbruck gebracht. Seeberger war selbst seit 1928 Kommunist und Kassier der KP in Innsbruck. Ihm war es daher rasch gelungen, das Vertrauen Grundsteins zu gewinnen, der ihn in seine Widerstandspläne gegen die NS-Herrschaft einweihte. Seeberger berichtete der Gestapo laufend über Grundsteins Aktivitäten. Zweieinhalb Jahre zuvor war Seeberger selbst anlässlich einer Verhaftungswelle unter Mitgliedern der „Roten Hilfe“ ins Visier der Gestapo geraten. Die Enthaftung nach achteinhalb Monaten und nach den entsprechenden Verhören unter Gewaltanwendung erfolgte wegen seiner erzwungenen Bereitschaft, sich der Gestapo für Spitzeldienste zur Verfügung zu stellen:

„Da ich Kassier der roten Hilfe war und Verbindung mit kommunistischen Organisationen in Salzburg und Vorarlberg hatte, war mein Leben bedroht. Jünemann [Gestapo-Referatsleiter Überwachung der Linken] sagte mir, wenn ich mitarbeiten würde, so könnte ich mein Leben retten. Ich bekam keinen bestimmten Auftrag, sondern Beringer [Gestapo-Referatsleiter Spitzelwesen] sagte mir, dass ich alles melden sollte, was mir unterkommen würde. Da ich, um mein Leben zu retten, darauf einging, wurde ich von der Gestapo auf freien Fuß gesetzt. (…) Die Gestapo sorgte auch für meine Wiedereinstellung bei der Bahn.“

Am 15. Dezember erfolgte Grundsteins Einlieferung ins landesgerichtliche Gefängnis. Während der polizeilichen Vernehmungen war er äußerstem physischen und psychischen Druck ausgesetzt. Die Folterungen führten zu einem Teilgeständnis. Am 3. Februar 1945 wurde Alfred Grundstein ins Wehrmachtsgefängnis in der Zietenkaserne in Torgau an der Elbe überstellt. Als Soldat unterstand er der Rechtsprechung der Wehrmacht und hatte sich vor dem Reichskriegsgericht zu verantworten.

Grundstein gab nach seiner Verhaftung selbst an, bis 1929 keiner politischen Vereinigung angehört zu haben. Während seiner Arbeitstätigkeit in der Spinnstofffabrik in Wilhelmsburg trat er nach eigenen Worten gezwungenermaßen dem Textilarbeiterverband bei und wurde kurze Zeit darauf Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) und der KP-nahen „Roten Hilfe“. Nach seinem Ausscheiden aus der Fabrik, so Grundstein vor dem Gericht, habe er ab 1930 keine Beiträge mehr bezahlt und sich bis 1938 politisch nicht mehr betätigt. In Innsbruck trat er im März 1938 dem „Bund der Reichsdeutschen im Ausland“ bei und wurde damit automatisch Mitglied der SA. Mit 1. April 1940 wurde er in die NSDAP aufgenommen. Dies dürfte wohl eine Vorleistung gewesen sein, um im NS-Gauverlag eine Beschäftigung als Buchhalter zu finden.

Das Wehrmeldeamt Innsbruck, in dem Grundstein als Karteisachbearbeiter arbeitete, war eines der Zentren des Widerstandes in Tirol. Der Unteroffizier Fritz Würthle, katholisch orientierter Journalist und Schriftsteller sowie späterer Pressechef der Tiroler Landesregierung, war einer der führenden oppositionellen Köpfe gegen den Nationalsozialismus im Wehrmeldeamt, wo er eine eigene Widerstandsgruppe aufbaute. Zudem versuchte er den völlig zersplitterten Widerstand der verschiedenen weltanschaulichen Gruppierungen in Tirol zu koordinieren. Am 20. Juni 1942 fand eine Besprechung mit dem Kommunisten Josef Ronczay, der ebenfalls im Wehrmeldeamt als Schreiber tätig war, mit dem Ziel statt, Kontakte zu prominenten ehemaligen christlichsozialen und sozialdemokratischen Politikern herzustellen. Würthle begann systematisch damit, Waffen zu lagern. 1942 gab es in Tirol aber immer noch keine Gesamtorganisation des Widerstandes, der weiterhin zahlenmäßig schwach blieb. Im Mittelpunkt der antinationalsozialistischen Bemühungen standen Aufbau und Koordination von Widerstandsgruppen, Anwerbung von Mitgliedern und ihre Ausbildung bzw. Bewaffnung.

Im April 1941 lernte Alfred Grundstein im Wehrmeldeamt Innsbruck Josef Ronczay kennen, mit dem er sich anfreundete. Ronczay, einer der führenden Kommunisten im Tiroler Widerstand, verwickelte ihn nach und nach in politische Gespräche, um ihn für den Widerstand zu gewinnen. Schließlich gab er sich als linksorientiert zu erkennen und weihte Grundstein in seine Absicht ein, eine „Bewegung“ gegen den Nationalsozialismus zu gründen. Nach einiger Überlegung entschloss sich Alfred Grundstein zur Mitarbeit.

Bei ihren Besprechungen arbeiteten sie Pläne im Fall eines Umsturzes aus, die unter anderem die Festnahme hochgestellter NS-Persönlichkeiten, speziell von Gauleiter Franz Hofer, vorsahen. Zur gegebenen Zeit sollte eine Fahne der Roten Armee, die im Bürgermeisteramt von Grinzens als Beutestück hing, entwendet werden. Einig waren sich die beiden insbesondere darin, dass Waffen beschafft werden mussten. Dieses gefährliche Vorhaben versuchte Alfred Grundstein in die Tat umzusetzen. Über Vermittlung Ronczays kaufte er eine österreichische Armeepistole Steyr mit 90 Schuss Munition für 100 Reichsmark. In der Wachstube des Bahnhofes entwendete er zwei italienische Militärgewehre und beschaffte sich durch Diebstahl und Zigarettentauschgeschäfte Gewehrmunition, das waren weitere 563 Schuss.

Nun ging Grundstein daran, selbst Mitglieder für den Widerstand zu werben, speziell unter seinen Arbeitskollegen bei der Bahnhofswache in Innsbruck, nachdem er ab Ende Dezember 1942 bei der Streifenkompanie eingesetzt war. Vor Gericht behaupteten sie, dass Alfred Grundstein seit Herbst 1943 durch seine politischen Äußerungen im kommunistischen Sinn aufgefallen sei, da er den Krieg als verloren betrachtet und die Notwendigkeit eines Sturzes der Regierung betont hatte. Zudem belasteten ihn die Zeugen dahin gehend, dass er die Sowjetunion und seine Tätigkeit als Kommunist in Hamburg gerühmt habe. Ein Arbeitskollege wusste zu berichten, dass Grundstein von Vorbereitungen auf ein Attentat auf Gauleiter Hofer, von der beabsichtigten Sprengung einer Eisenbahnbrücke, der Besetzung öffentlicher Gebäude und der Festnahme hochgestellten Persönlichkeiten erzählt habe, um ihn für den Widerstand zu gewinnen. Wegen seiner Bitte um Mithilfe bei der Verteilung kommunistischer Flugzettel und seinen politischen Äußerungen hätten ihn Arbeitskameraden als „alten Kommunist“ bezeichnet. „Sie wollen in ihm allerdings nur einen Schwätzer und Wichtigtuer gesehen haben“, fasste das Reichskriegsgericht die Aussagen von Grundsteins Kollegen zusammen.

Kommunist und Christ

Alfred Grundstein war kein ideologisch geschulter Kommunist. In erster Linie brachten es der Kontakt zu Ronczay sowie seine soziale Herkunft mit sich, dass seine antinationalsozialistische Betätigung auch ein Nahverhältnis zu einer kommunistischen Gruppe mit einschloss. Er war ebenso gläubiger Christ, der Umgang mit katholisch-konservativen Kreisen pflegte. So arbeitete Alfred Grundstein mit Gendarmeriehauptwachtmeister Ernst Winkler zusammen, einem guten Bekannten seiner Ehefrau. Um ihn zu schützen, gab er vor Gericht an, dass er die beiden italienischen Gewehre und einen Teil der Munition zwar bei Winkler versteckt hatte, ihm jedoch erzählt habe, dass er bei der SA und guter Nationalsozialist sei. Auch seinen Schwiegervater habe er nicht eingeweiht, als er einen größeren Posten Gewehrpatronen und die Pistole in verpacktem Karton in dessen Wohnung platzierte.

Ernst Winkler lernte Alfred Grundstein 1942 kennen. Im Juli 1945 gab er an:

„Gesprächsweise erklärte Grundstein, dass der Krieg so gut wie verloren ist und die weitere Fortsetzung desselben nur unnötige Opfer an Menschen und Material fordere. Er legte mir einen Plan einer Widerstandsbewegung vor, mit dem ich einverstanden war. Im Jahre 1944 im September anläßlich der Werbung von Mitgliedern kam diese Bewegung zur Kenntnis der Gestapo. Ich selbst war 4 Wochen in Untersuchungshaft und nur durch den Umbruch entging ich der Verurteilung.“

Im Juni 1946 stellte Winkler mit Blick auf Grundstein vor dem Stadtmagistrat Innsbruck fest:

 „Da auch er ein scharfer Gegner der NSDAP war und an die Wiederauferstehung Österreichs unerschütterlich glaubte, beschlossen wir durch Bildung einer Widerstandsgruppe – wir nannten sie damals ‚Österreichische Freiheitsbewegung’ – uns aktiv im Kampf gegen den Nationalsozialismus zu beteiligen. Wir begannen eine geheime Werbetätigkeit, schmuggelten ausländische Zeitungen ein, stellten Listen auf, auf denen die gefährlichen Nazis verzeichnet wurden usw. Beim Zusammenbruche Italiens brachte Grundstein Waffen und Munition nach Hause, die ich in meiner Wohnung und zum Teil auch bei den Schwiegereltern des Grundstein versteckte. Als Auftakt dieser Freiheitserhebung hätte ein Attentat auf den ehemaligen Gauleiter Hofer vorausgehen sollen. Auch versuchten wir mit anderen Widerstandsgruppen in Verbindung zu treten. Doch dazu kam es leider nicht mehr. Grundstein dürfte einem Gestapospitzel ins Garn gegangen sein, da er plötzlich im Oktober 1944 verhaftet wurde. Durch Schläge und Schikanen unmenschlichster Art mürbe gemacht, legte er schliesslich ein Teilgeständnis ab, worauf ich und noch einige Personen verhaftet wurden. Da Grundstein Soldat war, wurde sein Aktenvorgang nach Abschluss der staatspolizeilichen Erhebungen dem Militärgericht abgetreten, während mein Vorgang dem SS- und Polizeigericht übergeben wurde, da die Gendarmerie dem SS- und Polizeigericht unterstand.“

Alfred Grundstein wollte einen Teil seiner Aussagen zurücknehmen, da er sie bei den polizeilichen Vernehmungen nur aufgrund seiner Misshandlungen gemacht hatte. Allerdings gab es eine Zeugin, die in Innsbruck bei der Rückfahrt vom Verhör ins Polizeigefängnis einen Streit zwischen Grundstein und Ronczay verfolgt hatte, in dessen Verlauf Ronczay seinen Mitkämpfer als Esel beschimpfte, weil dieser alles zugegeben hatte: „Er riet dem Angeklagten, zu widerrufen und bis zuletzt zu leugnen, da es um den Kopf gehe. Trotz dieser energischen Zurechtweisung blieb der Angeklagte dabei, alles so angegeben zu haben, wie es tatsächlich war, so dass er nichts widerrufen könne.“

Nach dieser Vorhaltung konnte Grundstein seine Einwände vor dem Reichskriegsgericht nicht mehr aufrechterhalten. Seine Behauptung, die Waffen nur zur Verteidigung seiner Familie im Falle eines Umsturzes besorgt zu haben, weil ihr Wohnhaus abseits liege, konnte der Staatsanwalt leicht entkräften. Die Aussage schien dem Gericht aufgrund der Anzahl der Waffen und der Menge an Munition unglaubwürdig. Zudem verfügte er ja über eine Dienstpistole und hatte Waffen und Munition nicht in seiner Wohnung, sondern an anderen Orten versteckt. „Bei der erwiesenen kommunistischen Einstellung des Angeklagten ist die Überzeugung geboten, dass er die Waffen für einen Umsturz zur Verfügung stellen wollte.“, stellte das Reichskriegsgericht in seinem Feldurteil fest. Es ging davon aus, dass Grundstein als ehemaliges KPD-Mitglied die Ziele der KPD kannte und als Soldat wiederholt über Hoch- und Landesverrat belehrt worden war, sodass er wissen musste, dass jede Betätigung im kommunistischen Sinn verboten war:

„Trotzdem hat er sich nach den übereinstimmenden glaubhaften Aussagen seiner Kameraden mit kommunistischen Gedankengängen nicht nur weiter beschäftigt, sondern darüber hinaus auch auf seine Kameraden im kommunistischen Sinne Einfluss genommen. Seine Verbindung mit Ronczay und Seeberger und die mit diesen geführten Unterhaltungen und Erörterungen lassen deutlich erkennen, dass eine kommunistische Organisation aufgezogen werden sollte mit dem Ziel, die Verfassung des Reichs mit Waffengewalt zu ändern. Die Waffensammlung sollte der Erreichung dieses Zieles dienen. Der Angeklagte wusste, dass der Kommunismus im sowjet-russischen Bolschewismus aufgeht und dass das Reich seit Sommer 1941 sich in schwerstem Kampfe mit Sowjet-Russland befindet. Ihm war daher auch klar, dass jede Betätigung für den Kommunismus für Russland einen Vorteil und damit eine Unterstützung feindlicher Kriegsführung bedeutet. Der Angeklagte hat es somit als Deutscher im Inlande unternommen, während eines Krieges gegen das Reich der feindlichen Macht Vorschub zu leisten (…). Er ist Soldat im Felde (…) und muss daher (…) wegen Kriegsverrats mit der allein angedrohten Todesstrafe bestraft werden.“

Das Urteil vom 12. Februar 1945 wurde am 15. Februar vom Präsidenten des Reichskriegsgerichts bestätigt und am 26. Februar vollstreckt. In seinem Abschiedsbrief lastete Alfred Grundstein seiner Frau eine hohe Bürde auf. Er erbat von ihr Treue bis zum Tode, was eine Wiederverheiratung ausschloss. Einen wesentlichen Einfluss auf sein Verlangen hatten seine eigenen negativen Erfahrungen als abgeschobenes Kind, die er der Verehelichung seiner Mutter mit dem Stiefvater anlastete:

„Meine liebe Frau!

Heute den 26.2.45 um 4 Nachmittags bin ich nicht mehr am Leben, verzeih mir liebe Frau, was auch immer gewesen, ich habe dich stets lieb gehabt, das auch in meiner letzten Minute, ich denke Dein auf ewig und so Gott es will, sehen wir uns wieder, denke stets daran, daß ich dich liebe auch übers Grab hinaus, meine letzte Sorge galt Dir und unseren Kindern, laß Dir besonders Mariechen ans Herz gewachsen sein, sie kommt ganz auf mich heraus, vergiß auch nicht Elisabeth u. Siglinde, erziehe sie gut, sei nicht zu streng, aber achte auf sie, daß sie auf dem rechten Weg bleiben, sollte sich Max [Sohn aus der ersten Ehe; H.S.] einmal an dich wenden, gib ihm Rede und Antwort, hilf ihm auch soweit du es deinen Kindern gegenüber verantworten kannst. Bleibt alle gesund und betet für euren Papa recht oft u. fleißig. Liebe Maria wir beide hatten uns sehr lieb, so soll es nun auch weiter bleiben, stelle mir einen Grabstein auf in Innsbruck u. komme regelmäßig dorthin zur Andacht mit den Kindern. Liebe Maria ich sterbe mit Gott auf den Lippen u. einem reuigen Herzen u. voll Sehnsucht reicht meine Liebe zu euch. Liebe Maria ich bitte dich inständigst bleibe mir treu, heirate nicht, tue es den Kindern u. mir zuliebe (…).

Liebe Maria, dein Leben wird jetzt hart sein, ich weiß du wirst es meistern in Liebe zu Gott, zu deinem Papa u. zu unseren Kindern, grüße deinen Vater, meine Geschwister u. alle anderen von mir aufs herzlichste, soeben war der Kathol. Pfarrer bei mir, ich empfange alles was ich brauche um als Christ zu sterben. Liebe Frau sei so freundlich und schreibe meiner Mutter, daß ich auch an Sie denke in meiner Todesstunde (…) ich (…) tröste mich mit meinem Schicksal, drum liebe Maria beachte meine Worte genau u. befolge sie, es wird dein Schaden nicht sein, Gott ist dein Tröster u. wird dich reich belohnen durch das Leben u. Gedeihen deiner Töchter u. wenn Du einmal abgerufen werden solltest, dann werde ich dich voll Sehnsucht in meine Arme nehmen, errichte in einer Ecke der Stube einen Altar u. laß von mir ein Bild vergrößern u. stelle das dort auf, dann bin ich stets bei euch, dort betet für mich jeden Abend u. Morgen u. bei jeder Gelegenheit, laß eine Messe für mich lesen u. lade dazu ein. Schmücke mein Grab mit Blumen und pflege es. (…) Hart wird die Zeit für dich werden liebe Frau, solltest Du einmal verzweifeln, bete zu Gott u. lese meinen Brief, damit Du einen Trost hast, schreibe diese Zeilen mit der Maschine ab, damit Du den Brief schonst bis an das Ende. Es ist unser Schicksal, daß das so wird u. tragen wir es mit Geduld. Mein Leiden fing am 17. Oktob. 44 an u. endete am 26.2.45. Nachmittags um 4 Uhr. Richte diesen Tag ein als Gedenktag. Mein letzter Wille u. mein letzter Gruß gilt euch meine Lieben, deinen Eltern u. Verwandten wie den meinigen Eltern u.s.w. mein letzter Gedanke gilt Dir u. unseren Kindern. Euer Papa!“

Am 1. März 1945 wurde Maria Grundstein offiziell vom Urteil des 4. Senats des Reichskriegsgerichts in der Sitzung vom 12. Februar 1945 in Kenntnis gesetzt, dass ihr Mann am 26. Februar wegen Kriegsverrats hingerichtet worden war bei gleichzeitigem dauernden Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte und der Wehrwürdigkeit. Vier Tage später erreicht sie ein Schreiben des katholischen Kriegspfarrers:

„Ich habe ihn in der Zeit vorher öfter besucht und bin auch in den letzten Stunden bei ihm gewesen. Er hat durch den Empfang der hl. Sakramente sich andächtig vorbereitet. Durch mich lässt er Sie um Verzeihung bitten für den grossen Kummer, den er Ihnen bereitet hat. Es wird für Sie ein Trost sein zu hören, dass ich bis zur letzten Minute an seiner Seite stand. Ihr Mann lässt Sie alle herzlich grüssen. Ich werde in den nächsten Tagen für ihn eine hl. Messe lesen.“

„Möchte sie höflichst ersuchen für eine Frau, die für drei Kinder zu sorgen hat, ein Verständnis aufzubringen“

Durch den Tod von Alfred Grundstein stand seine Ehefrau Maria mit den drei kleinen Töchtern auch nach der Befreiung vom Nationalsozialismus völlig mittellos da. Ihr Rechtsbeistand wandte sich am 1. Juni 1945 an das Versorgungsamt Innsbruck mit der Bitte der Witwe und ihrer Kinder „um Gewährung einer Rente, die sie vor Not schützt.“

Die Familie bekam rückwirkend mit 1. Februar 1945 eine kleine Witwen- und Waisenrente zugesprochen, mit der sie mehr schlecht als recht ihr Auslangen finden konnte. Doch mit April 1946 wurde diese Unterstützung bis zur Klärung ihrer Staatsbürgerschaft ausgesetzt. Maria Grundstein hatte mit dem Problem zu kämpfen, dass ihr der Zugang zur Opferfürsorge versperrt war, weil sie als deutsche Staatsbürgerin eingestuft wurde. Zwar hatte die Tiroler Landeshauptmannschaft ihr im Juli 1945 bestätigt, dass sie als Österreicherin anzusehen wäre, weil sie glaubwürdig nachweisen konnte, dass sie vor dem 13. März 1938 in Mutters heimatberechtigt gewesen war. Doch aufgrund des inzwischen in Kraft getretenen Staatsangehörigkeitsgesetzes verlor dieser von der Landeshauptmannschaft ausgestellte Nachweis seine Gültigkeit. Da ihr Ehemann Reichsdeutscher war, galten sie und ihre Kinder ebenfalls als deutsche StaatsbürgerInnen. Zeitweise war die Familie daher gezwungen, von ihren Ersparnissen zu leben. Befanden sich auf den Sparbüchern der drei Kinder Ende Mai 1946 noch je 1.000 Schilling, so waren diese 3.000 Schilling zwei Jahre später auf 471 Schilling geschrumpft.

Am 20. Jänner 1947 erhielt Maria Grundstein von der Tiroler Landeshauptmannschaft die Bescheinigung, dass sie ab dem Tag ihrer Abgabe der Erklärung vom 28. August 1946 „der österreichischen Republik als getreuer Staatsbürger angehören zu wollen“ die österreichische Staatsbürgerschaft erworben habe. An ihrer misslichen finanziellen Lage änderte dies vorerst wenig. Im Juli 1947 wandte sie sich an das städtische Fürsorgeamt: „Da ich wegen meiner 3 kleinen Kinder keiner Arbeit nachgehen kann, befinde ich mich in der bittersten Notlage und bitte ich Sie daher mir zur Abwendung der ärgsten Not eine monatliche Fürsorge-Unterstützung“ zu gewähren bis zur Klärung der Frage, ob Anspruch nach dem Opferfürsorgegesetz besteht.

Im Oktober 1947 erhielt sie aufgrund der Bestätigung ihrer österreichischen Staatsbürgerschaft wenigstens den Bescheid einer rückwirkenden Auszahlung von monatlichen Abschlagszahlungen ab dem 1. Oktober 1946 durch das Landesinvalidenamt Tirol nach den Bestimmungen des Wehrmachtsfürsorge- und Versorgungsgesetzes vom August 1938. Doch weiterhin musste sie darum kämpfen, nicht nur äußerst bescheidene Unterstützungszahlungen zu bekommen, sondern stattdessen eine Opferfürsorgerente. Dem stand aber immer noch entgegen, dass Alfred Grundstein deutscher Staatsbürger war. Am 2. Februar 1948 erschien sie vor der im Amt der Tiroler Landesregierung angesiedelten Opferfürsorgebehörde mit der Bitte um Weiterleitung ihres Ansuchens an die Bundesregierung. Maria Grundstein ersuchte um Nachsicht für die fehlende österreichische Staatsbürgerschaft ihres Mannes, um doch noch eine Opferfürsorgerente beziehen zu können. Sie begründete ihr Anliegen folgendermaßen:

„Ich bin Witwe mit 3 Kindern und zeitlebens österreichische Staatsbürgerin. Nachdem mein Mann als aktiver Kämpfer gegen den Nationalsozialismus hingerichtet worden war, trifft es mich besonders schwer, daß ich wegen des rein formellen Mangels der österr. Staatsbürgerschaft meines Mannes von der Anspruchsberechtigung nach dem OFG. [Opferfürsorgegesetz] ausgeschlossen sein soll.“

Aufgrund einer Änderung der gesetzlichen Voraussetzung stand ihr schließlich die Möglichkeit der Zuerkennung der Anspruchsberechtigung nach dem Opferfürsorgegesetz offen. Die entsprechende Amtsbescheinigung als Hinterbliebene eines Opfers des Kampfes um ein freies, demokratisches Österreich konnte ihr dadurch am 30. März 1948 ausgestellt werden. Mit 1. Mai 1948 erhielt Maria Grundstein eine kleine Hinterbliebenen- und Unterhaltsrente, die bereits am 1. Jänner 1950 empfindlich gekürzt wurde.

Die Einkommenssituation der Familie blieb die meiste Zeit sehr angespannt. Ende Oktober 1950 schrieb sie an das Stadtmagistrat: „Möchte sie höflichst ersuchen für eine Frau, die für drei Kinder zu sorgen hat, ein Verständnis aufzubringen, deren finanzielle Lage oft bedenklich ist“. Sie war gezwungen, in ihrer Dreizimmer-Wohnung in der Stafflerstraße, in der die vierköpfige Familie lebte, zeitweise Zimmer an ihren Bruder bzw. an einen seiner Arbeitskollegen unterzuvermieten und sie als Kostgeher aufzunehmen. Das Erhebungsamt im Stadtmagistrat bemerkte nach seiner Prüfung der finanziellen Lage: „Wegen der schwierigen Wirtschaftsführung ist kaum ein nennenswertes Einkommen aus diesen Vermietungen herausgekommen.“

1953 und 1962 wurde Maria Grundstein, die ab 1961 zum Ersatzmitglied des Opferfürsorgefonds-Ausschusses berufen wurde, eine Entschädigung für die fünf Monate Haft ihres Ehemannes zugesprochen, 1978 ein nennenswerter Beitrag aus dem Fonds zur Hilfeleistung an politisch Verfolgte. Dieser Hilfsfonds zahlte Aushilfen an bedürftige Personen. In ihrem Fall war dies möglich, weil sie zum Kreis der nicht wieder verehelichten Witwen eines in der NS-Zeit politisch Verfolgten gehörte.

Am 20. Mai 1977 nahm Maria Grundstein von Bundeskanzler Bruno Kreisky das Ehrenzeichen für Verdienste um die Befreiung Österreichs für ihren Mann Alfred Grundstein entgegen.