Begegnung mit einem 100-Jährigen

Aus: Gaismair-Jahrbuch 2008
Horst Schreiber

Ich bin auf die Geschichte von Erwin Widschwenter durch ein Video gestoßen, das einen hoch betagten Mann portraitiert, der wegen seiner Homosexualität in die Mühlen der nationalsozialistischen Verfolgung gerät. Auch nach 1945 setzt sich seine Diskriminierung fort, obwohl er sich nichts zuschulden kommen lässt. Heute wohnt Erwin Widschwenter als knapp 100jähriger im Seniorenwohnhaus St. Anna der Caritas in Linz. Dort führte ich ein Gespräch mit ihm, in dem er mir aus seinem Leben erzählte.

Homosexualität in der NS-Zeit

Homosexualität war zwar auch vor 1938 verboten, doch in der NS-Zeit kommt es zu einer drastischen Strafverschärfung bis hin zu Einweisungen in Konzentrationslager. Die Verfolgung homosexueller Männer steigt sprunghaft an. In Tirol werden schließlich weit mehr als 300 Männer wegen Homosexualität angezeigt, rund 200 von ihnen auch abgeurteilt. Mehrmonatige Haftstrafen sind die Regel. In Einzelfällen kommt es sogar zu jahrelangen Einkerkerungen. Ein Tiroler Homosexueller kommt im KZ Dachau ums Leben, ein anderer wird im KZ Flossenbürg qualvoll zu Tode gefoltert, ein weiterer begeht bereits im Anschluss an das erste Verhör nach seiner Verhaftung Selbstmord.

Von Niederau nach Gmunden

Erwin Widschwenter wird 1908 als uneheliches Kind einer mittellosen Postangestellten in Hall in Tirol geboren. Bereits im Säuglingsalter kommt er zu einer Pflegmutter nach Niederau in die Wildschönau. Sie behandelt ihn wie ihren eigenen Sohn und kümmert sich liebevoll um ihn. Er geht in die Unterstufe des Realzweiges des Gymnasiums in der Angerzellgasse in Innsbruck und wechselt dann ins Humanistische Gymnasium nach Salzburg. Nach der Matura absolviert Widschwenter das Studium der Theologie, da er Pfarrer werden will. Im Priesterseminar bekommt er als unehelich Geborener immer wieder Schwierigkeiten. Anlass zu Kritik gibt auch sein Interesse für Gedichte homoerotischen Inhalts aus der Zeit der Antike. Erwin Widschwenter tritt zwar ins Kloster des Augustinerchorherrenstiftes Reichersberg in Oberösterreich ein, verlässt es aber noch vor seiner Priesterweihe. Nach dem Besuch von Weiterbildungsschulen kommt er in der Finanzlandesdirektion Linz unter. Mehrere Jahre arbeitet er im Finanzamt Gmunden als Steuerinspektor.

Nationalsozialistische Verfolgung

1942 erfolgt die Einberufung zum Militär nach Wien. Wegen seines schlechten Fußes bleibt ihm eine Einberufung an die Front erspart. Im Jänner 1944 wird Widschwenter im Esterházy-Bad im 6. Bezirk bei einer Razzia wegen homosexueller Handlungen verhaftet. Die Gestapo lag bereits seit langem auf der Lauer. Die Außenstelle Wien des Zentralgerichts des Heeres in Berlin-Charlottenburg verurteilt ihn am 11. Mai 1944 zu fünf Jahren Zuchthaus, Ehrverlust und Wehrunwürdigkeit. Die Haft muss er im Gefängnis Krems-Stein abbüßen. Als die Sowjetarmee heranrückt und der Anstaltsleiter Gefangene zu entlassen beginnt, richten SS und „Volkssturm“ am 6./7. April 1945 ein Massaker an. Mindestens 386 vorwiegend politische Häftlinge, darunter auch ausländische Gefangene, werden im Gefängnis und in der Umgebung von Krems ermordet. Erwin Widschwenter überlebt nur durch großes Glück.

Er wird in Gefängnisse nach Bayern gebracht, wo man ihn brutal behandelt. Die Beschimpfung wegen seiner Homosexualität ist ihm beim Empfang in der Haftanstalt Straubing in besonders schlechter Erinnerung: „’Schämen Sie sich, Sie Schweinekerl.‘ Das war die Begrüßung durch den Gefängnisgeistlichen. Das hat mich sehr berührt.“

Diskriminierung bis in die Gegenwart

Erwin Widschwenter wird erst im Mai 1946 aus dem Gefängnis entlassen. Der Grund: die gesellschaftliche Ächtung Homosexueller. Homosexualität gilt weiterhin als kriminelle Tat. Widschwenter wird nicht als NS-Opfer anerkannt.

Als er nach seiner Rückkehr nach Oberösterreich wegen seines Untergewichts eine erhöhte Zuteilung von Lebensmittelkarten beantragt, wird ihm dies wegen seiner amtsbekannten Homosexualität ebenso verweigert wie die Wiederaufnahme seiner Tätigkeit als Steuerinspektor. Bis zu seiner Pensionierung 1973 muss sich Widschwenter als kleiner kaufmännischer Angestellter mit geringem Einkommen über Wasser halten. Als Pensionist lebt er in einer 25 m2-Wohnung in Linz, bis er schließlich im hohen Alter in ein Seniorenwohnhaus der Caritas übersiedelt.

Dank einer Unterstützung der Homosexuellen-Initiative (HOSI) bekommt er 1997 als 87jähriger von der Republik Österreich eine kleine finanzielle Entschädigung ausbezahlt. Dieses Erlebnis ist für ihn eines der schönsten seit vielen Jahren, doch nicht wegen des Geldes, das er wegen seiner bescheidenen Rente durchaus gut gebrauchen kann, sondern wegen des ihm entgegengebrachten Respekts. Aufgrund des Gesetzesparagrafen, der Homosexualität unter Strafe stellt und erst 2002 endgültig aufgehoben wird, kommen in Österreich noch in den 1950er und 1960er Jahren hunderte Männer ins Gefängnis. Der bald 100jährige Erwin Widschwenter stellt fest: „Wir haben länger büßen müssen als alle anderen (…). Sogar die Verbrecher sind besser behandelt worden als Leute wie wir. Um sich davon zu erholen, reicht kein Leben.“

„Nichts geht so schnell wie die Jahre“

Die Begegnung mit Erwin Widschwenter hinterlässt einen nachhaltigen Eindruck auf mich. Seine Verfolgungsgeschichte habe ich bereits vor unserem Gespräch in den Grundzügen gekannt. Ich erfahre zwar weitere Einzelheiten, doch in Wirklichkeit kreist unser vierstündiges Zusammensein in erster Linie um seine Einsamkeit und sein verpasstes Lebensglück.

Da Erwin Widschwenter nicht mehr gehfähig ist, liegt sein Zimmer im Erdgeschoß. Die breite Glasfront erlaubt einen freien Blick in den Garten. Zwei große Bilder schmücken sein Zimmer, die gleichsam die schönsten Momente seines Lebens widerspiegeln. Das eine zeigt das Haus seiner Ziehmutter in der Wildschönau. Wenn er über sie spricht, ist seine tiefe Verbundenheit und Dankbarkeit zu ihr zu spüren. Sie zählt zu jenen wenigen Menschen, die ihn angenommen und unterstützt haben. Doch auch in der Beziehung zur Pflegemutter bleibt ihm seine Sehnsucht versagt, so gesehen und akzeptiert zu werden, wie er ist. Erwin Widschwenter wagt es nicht, mit ihr über seine Homosexualität zu sprechen. Er will sie nicht überfordern und hat auch Angst vor Zurückweisung: „Ich habe nirgends Verständnis gefunden. Meiner Ziehmutter habe ich nichts gesagt. Meine Ziehschwester hat mir empfohlen, sag ihr nichts. Sie versteht das ja gar nicht. Ich habe immer ein bisschen gelitten unter meiner Veranlagung, aber ich habe nie bereut, dass ich so bin – nie.“

Das zweite große Bild in Erwin Widschwenters Zimmer im Altersheim zeigt eine Aufnahme des Pont du Gard, der römischen Aquäduktbrücke in Südfrankreich. Es ruft Erinnerungen an die schönste Zeit in seinem Leben wach: gestohlene Momente des Glücks in einer Beziehung, die nicht offen gelebt werden durfte. Während er über sein Liebesverhältnis mit seinem langjährigen Freund Rudi spricht, hellen sich seine Gesichtszüge kurz auf. Geradezu enthusiastisch erzählt er zunächst von gemeinsam verbrachten Urlauben in Frankreich und Spanien, von der erlebten Vertrautheit, Wärme und Zärtlichkeit. Doch schließlich gewinnen sein Gefühl des Verlustes und sein unerfülltes Sehnen nach Zweisamkeit, Verständnis und Nähe die Oberhand. Mit Blick auf einen kahlen Baum in der herbstlichen Winterlandschaft verstummt er vorübergehend. „Als der Rudi nicht mehr da war, das war furchtbar, als wäre er ein Stück von mir. Nach ihm ist nichts Gescheites mehr nachgekommen. Dann war ich wieder allein. Und man wird älter. Und man wird weniger begehrt.“, erinnert sich Erwin Widschwenter. Letztendlich habe er sich dann doch immer auf der Schattenseite des Lebens befunden.

Auf einem der Fotos, die er mir zeigt, ist eine schöne Frau abgelichtet: seine leibliche Mutter. Wir lesen gemeinsam den kurzen Text, den sie „Meinem lieben Kind“ als Zehnjährigem 1918 gewidmet hat. „Weggegeben hat sie mich dann aber doch“, unterstreicht Erwin Widschwenter ohne Verbitterung, aber mit großer Wehmut und bemerkt: „Was wäre geschehen, wenn sie mich mit 14 Tagen nicht weggegeben hätte. Wie wäre mein Leben verlaufen, wenn sie mich behalten hätte. Die Mutter besuchte mich manchmal, aber eigentlich hat sie mich als Kind verlassen. Die Ziehmutter hat mich aus Barmherzigkeit genommen.“

Im Video-Portrait, das vor einigen Jahren aufgenommen wurde, beschreibt er zwar die Eintönigkeit seines Tagesablaufes, das „Herwarten auf den Tod“, gleichzeitig bekräftigt er seinen Lebensmut: „Immer wieder freue ich mich, dass ich so ein hohes Alter trotz der Schicksalsschläge und der Widerwärtigkeit des Lebens erreicht habe.“ Doch nun sinniert Erwin Widschwenter darüber, dass die wenigen Menschen, die ihm nahe gestanden haben und mit denen er eine gemeinsame Geschichte hatte, bereits verstorben sind: „Alle sind sie weg, niemand ist mehr da. Nur ich. Man fühlt sich schon sehr einsam, wenn die eigenen Leute wegsterben. Ersatz gibt es nicht. Ich habe zu niemandem mehr Zutrauen, der lebt. Die Frau … kümmert sich um mich. Sie ist sehr nett. Aber wissen Sie eh, das ist mehr was Karitatives.“

Erwin Widschwenter ist geistig immer noch sehr rege. Er hört Nachrichten, liest Zeitungen und Bücher. „Hitlers Frauen“ liegt auf seinem Nachttisch. Eine Stunde lang kann er sogar noch ohne Brille lesen. Die Bildung, die er genossen hat, ist ihm die größte Hilfe. In seinem Geist lässt er die Weltliteratur auferstehen. Er rezitiert mir in immer schnellerem Tempo einen Autor der Antike nach dem anderen. Auf Altgriechisch und Latein. Bei der „Ars amandi“ (Kunst des Liebens) von Ovid strahlt er bis über beide Ohren. Verschmitzt erzählt er über Liebeleien seiner Jugend und erotische Abenteuer. Dabei blickt er immer wieder zur Eingangstür und lauscht, so als ob er nicht bei etwas Verbotenem ertappt werden möchte. Auch im Alter von 100 Jahren ist die Sexualität noch gegenwärtig. Als ich Anwandlungen mache, aufzubrechen, fängt er sofort wieder an, Gedichte laut aufzusagen: Nikolaus Lenaus „Postillon“, Schillers „Glocke“ und auch Liturgisches aus seiner Zeit als Priesterseminarist. Er entwickelt eine Ausdauer und Kraftanstrengung, die mich eine weitere Stunde an seinem Bett stehend verweilen lassen. Zum Abschied bekräftigt er sein Lebensmotto: „Mensch erkenne dich selbst.“

Auf dem Weg in die Stadt wirkt in mir das Bild des alten und zuletzt jugendlich wirkenden Mannes, der zahnlos mit dem Strohhalm einen kalten Kaffee schlürft, weil dieser, wie er augenzwinkernd bemerkt, schön mache, noch lange nach. Am Ende unseres Gesprächs hat mir Erwin Widschwenter eindringlich mitgeteilt: „Was ich tun muss jeden Tag, ist loslassen und abschließen, abschließen und loslassen. In meinem Alter ist das etwas Logisches, auch wenn es mir schwer fällt. Aber im Leben ist das doch ständig so, bei mir kommt das wenigstens nicht unerwartet.“

Literatur und Medien:

Interview Horst Schreiber mit Erwin Widschwenter, 13.1.2007.

Krickler, Kurt: Kontinuität der Verfolgung, in: LAMBDA-Nachrichten (Juni 2001), S. 45.

Schreiber, Horst: Nationalsozialismus und Faschismus in Tirol und Südtirol (Arbeitstitel), Innsbruck-Wien-Bozen 2007.

Schuster, Angelika/Sindelgruber, Tristan: Videodokumentation „Vergessene Opfer“, Teil 6: Homosexualität. Eine Koproduktion von Verein „Standbild“ und „Schnittpunkt“, Wien 2001.