Ein „Idealist, aber kein Fanatiker“?

Dr. Hans Czermak und die NS-Euthanasie in Tirol

Aus: Tiroler Heimat, Band 72 (2008), S. 205-224. Dort auch mit Fußnoten

Der Werdegang von Dr. Hans Czermak

„Größe: 184; Augen: braun; Kinn: scharf; Nase: gross; Haar: grau; Mund: klein; Besondere Kennzeichen: Säbelnarben.“

So wird der am 21. April 1892 in Graz geborene Hans Czermak im Personalbogen der NSDAP beschrieben. Sein Vater war Universitätsprofessor für Physik, ein Großvater „Irrenarzt“, der sich bei der Einführung der Beschäftigungstherapie bei psychisch Kranken Verdienste erwarb.

Czermak kam 1898 im Alter von sechs Jahren nach Innsbruck, wo er die Volksschule und die ersten vier Klassen des Gymnasiums absolvierte. Die Oberstufe besuchte er in Graz. Czermak bezeichnete seine Erziehung durch den Vater als liberal. Dennoch wurde er, vermutlich auf Betreiben der Mutter, religiös erzogen. So soll er während seiner Gymnasialzeit fast täglich vor Schulbeginn in die Messe gegangen sein.

1910 nahm Czermak sein Medizinstudium in Innsbruck auf und trat dem Kösener Corps Athesia Innsbruck bei – einer schlagenden Studentenverbindung, deren Mitglieder aus angesehenen Bürgers- und Adelsfamilien stammten. Noch vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges meldete er sich am 1. Juni 1914 freiwillig zur Militärausbildung für Mediziner in Prag und kam schließlich an die Front nach Galizien. 1916 erkrankte er an Typhus, erhielt nach der Genesung längeren Studienurlaub und promovierte schließlich noch im selben Jahr an der Universität Graz zum Dr. med. Ab November 1918 war Czermak als Assistenzarzt am Anatomischen Institut in Graz beschäftigt und wechselte im Herbst 1919 an die Chirurgie nach Innsbruck. 1924 verbrachte er ein Jahr am Kantonsspital in Aarau in der Schweiz, im Anschluss daran arbeitete er kurze Zeit in der oto-laryngischen Abteilung der Universitätsklinik Innsbruck. Am 1. Jänner 1925 ließ er sich in der Tiroler Landeshauptstadt als Facharzt für Hals-, Nasen- und Ohrenerkrankungen nieder.

Im April 1919 hatte er die Tochter eines Grazer Großindustriellen geheiratet, doch die Ehe wurde 1928 geschieden. Czermak gab an, dass er aus Mangel an Zivilcourage gegen seinen Willen in die Heirat eingewilligt habe. Die Ehe verlief schließlich kinderlos und unglücklich, obwohl ihn seine Frau sehr geliebt habe. In der NS-Zeit galt die Industriellenfamilie als erbbelastet. Ein Elternteil war, so Czermak 1949, „an Euthanasie gestorben, meine Frau war die einzige Gesunde aus dieser Familie.“ Bereits kurz nach seiner Scheidung verehelichte er sich im Oktober 1929 erneut. Dabei handelte es sich um eine „reine Liebesheirat“. Mit seiner ebenfalls geschiedenen Frau, die eine Tochter mit in die Ehe brachte und seit 1932 Mitglied der NSDAP war, hatte Czermak einen gemeinsamen Sohn. Nicht zuletzt wegen seiner Wiederverheiratung war er 1929 aus der katholischen Kirche ausgetreten und zum evangelischen Glauben konvertiert. Nach der NS-Machtübernahme verließ er auch die evangelische Kirche, da dies Gauleiter Franz Hofer von seinen politischen Leitern verlangt habe.

Im März 1933 trat Czermak in die NSDAP und SA ein. Am „illegalen Kampf“ beteiligte er sich „nach besten Kräften“. 1934 saß er deshalb eine Woche im Innsbrucker Polizeigefängnis und hatte darüber hinaus eine Geldstrafe von 1.000 Schilling zu bezahlen. Er organisierte als SA-Brigadearzt den SA-ärztlichen Dienst und stieg 1937 zum SA-Standartenführer auf. Nach dem „Anschluss“ übernahm er als neuer Landessanitätsdirektor die Abteilung IIb der Tiroler Landeshauptmannschaft, obwohl er über keine einschlägige fachliche Erfahrung und Ausbildung verfügte. Er absolvierte deshalb Lehrgänge in Wien und Wiesbaden. Währenddessen durfte der bisherige Sanitätsdirektor Paul Daser weiter arbeiten, dann wurde er zwangspensioniert. Czermak, der eine Vertrauensbeziehung zu Gauleiter Franz Hofer hatte und ihm blind ergeben war, ist ein repräsentatives Beispiel für die im Nationalsozialismus typische Verflechtung von Partei und Staat. Mit 1. Mai 1939 wurde er zum Gauhauptstellenleiter im Gauamt für Volksgesundheit ernannt, seine Berufung zum Gauamtsleiter erfolgte mit Wirkung vom 3. November 1941. Czermak war auch Gauobmann des NS-Ärztebundes, Vorstand der Tiroler Ärztekammer und der kassenärztlichen Vereinigung. Im Frühjahr 1939 avancierte er zum Oberregierungs- und Medizinalrat. Nach dem Umbau der Verwaltung Ende 1939, Anfang 1940 übernahm er neben seinen Parteiämtern in Personalunion die Leitung der Abteilung III der Reichsstatthalterei Tirol-Vorarlberg. Diese Abteilung „Volkspflege“ mit den Unterabteilungen IIIa (Gesundheitswesen) und IIIb (Fürsorgewesen) gliederte sich in vier Dezernate: Gaujugendamt, Gaufürsorgeverband, Aufsicht der Fürsorgeverbände und Abteilung für Familienunterstützung. Die Heil- und Pflegeanstalten fielen in den Zuständigkeitsbereich des Gaufürsorgeverbandes. Die Unterabteilung IIIa wurde von Czermak persönlich geleitet.

Die Beteiligung von Hans Czermak an den NS-Euthanasiemorden in Tirol

Im Wesentlichen war Czermak ein willfähriger Erfüllungsgehilfe der in Berlin geplanten Ermordung psychisch Kranker und Behinderter. Als Leiter des Gesundheitswesens im Gau Tirol-Vorarlberg stand gemeinsam mit Gauleiter Franz Hofer die Planung, Vorbereitung und Durchführung der gesamten Mordaktion im Gau Tirol-Vorarlberg unter seiner Führung und Verantwortlichkeit. Czermak ebnete den NS-Euthanasieärzten aus Berlin und Linz bei der Sichtung und Auswahl der zu tötenden PatientInnen organisatorisch den Weg. Er legte immer wieder auch Eigeninitiative an den Tag und sorgte sich um eine rasche Reduktion der PatientInnenzahlen im Gau. Mit dem Leiter der Tötungsanstalt Schloss Hartheim bei Linz und der Heil- und Pflegeanstalt Niedernhart in Linz, Dr. Rudolf Lonauer, vereinbarte er die Vorgangsweise für den Abtransport der Kranken. Er kam mit ihm überein, dass die abgeholten PatientInnen „als gestorben zu behandeln sind.“ Dabei drängte er darauf, dass die Transporte so schnell wie möglich durchgeführt wurden. Bereits am 31. Juli 1940 verwies er gegenüber dem Gauleiter auf die Notwendigkeit einer Reduktion der PatientInnenzahlen in Hall und Valduna, egal wie. Trotz gegenteiliger Tatsachen behauptete er, dass er bekannt geben müsse, „daß die Heil- und Pflegeanstalten in Hall und Valduna einen unerträglichen Überbelag aufweisen, sodaß jede Maßnahme, die geeignet ist diesem Übelstand abzuhelfen, wärmstens zu begrüssen wäre.“ Als sich der Abtransport von PatientInnen aus dem Gau Tirol-Vorarlberg verzögerte, drängte Czermak aus eigenem Antrieb in Berlin nachdrücklich darauf, „die beabsichtigten Transporte doch so bald als irgend möglich durchzuführen“.

Czermaks legte eine Reihe von Verhaltensweisen an den Tag, die seinen beträchtlichen Ermessensspielraum verdeutlichen. So legte er etwa gegenüber Klebelsberg ausdrücklich Wert darauf, dass kein Patient von Hall aus in eine andere Anstalt ohne seine Genehmigung verlegt werden durfte und auch Weisungen „übergeordneter Stellen“ erst ihm persönlich zur Entscheidung vorgelegt werden mussten.

Als beunruhigte Angehörige von Kranken eine Überstellung in die Heil- und Pflegeanstalt Hall verhinderten, indem sie ihre Verwandten gegen Unterschreibung eines Revers nach Hause nahmen, forderte Czermak eine Sichtung der PatientInnen in regelmäßigeren Abständen, um dem entgegenzuwirken und eine größere Anzahl kranker Menschen zur Ermordung nach Oberösterreich schicken zu können. Im Jänner 1942 schrieb er an den Reichsinnenminister:

 „Wenn nicht schwere unheilbare Kranke in Anstalten außerhalb des Gaues verlegt werden, erreichen die Angehörigen in vielen Fällen doch einmal die Entlassung in die Häuslichkeit, was aus den in Ihrem Erlaß angeführten Gründen durchaus nicht erwünscht ist, abgesehen von der damit verbundenen ganz erheblichen Arbeitsbelastung der Gesundheitsämter und Erbgesundheitsgerichte.“

Besonderes Augenmerk legte Czermak darauf, neben den Heil- und Pflegeanstalten Hall und Valduna in Rankweil, Vorarlberg, auch die von geistlichen Ordensschwestern geführten Versorgungs-, Armen- und Altenhäuser, in denen sich psychisch Kranke und Menschen mit Behinderungen befanden, in die Mordaktion miteinzubeziehen. Die Überstellung dieser PatientInnen in die Zwischenstation Hall sollte ihre Deportation nach Hartheim bzw. Niedernhart erleichtern. Die Zentralisierung „Geisteskranker“ in Hall entsprach dem technokratischen Modernisierungswillen des NS-Systems.

Mit Lonauers Stellvertreter Dr. Georg Renno oder auch mit Lonauer selbst erschien Czermak persönlich in den Versorgungshäusern Ried und Nassereith sowie im St. Josef Institut in Mils und im Heim für geistig behinderte Kinder und Jugendliche Mariathal bei Kramsach, um den NS-Euthanasieärzten die „Arbeit“ zu ermöglichen und den Ordensschwestern klar zu machen, dass die ausgewählten PatientInnen „verlegt“ werden mussten. Doch Czermak ging der Abtransport der Kranken aus Hall zu wenig rasch voran. Darüber zeigte er sich „sehr enttäuscht“. Sein hartnäckiges Insistieren bei Lonauer und in Berlin sorgte in der Folge schließlich dafür, dass noch im August 1942, ein Jahr nach der angeblichen Einstellung der NS-Euthanasie, ein Todestransport mit 60 PatientInnen von Hall nach Niedernhart abging. Da es deshalb keine offiziellen „Transportlisten“ gab, dürfte dieser letzte Transport von Lonauer und Czermak zusammengestellt worden sein. Mitte November 1942 zeigte sich Czermak „sehr befriedigt“, als ihm mitgeteilt wurde, dass die in Oberösterreich durchgeführten Tötungen von PatientInnen aus dem Gau Tirol-Vorarlberg an Effizienz gewonnen hatten. Gemeint war die Verabreichung von Todesspritzen in der Heil- und Pflegeanstalt Niedernhart. Czermak hoffte auch in der Heil- und Pflegeanstalt Hall eine „Euthanasieabteilung“ einrichten zu können. Er dachte dabei an Tötungen mittels Medikamentenüberdosierung bzw. an die Installierung einer Vergasungsanlage. Nicht zuletzt versprach er sich bei einer Durchführung der Mordaktion vor Ort eine Einsparung der Transportkosten, besonders des Benzinverbrauchs. Mehrmals machte Czermak gegenüber seiner Schreibkraft die Bemerkung, dass „Geisteskranke (…) ins Feuer gehörten“.

Czermak erscheint in seinem Briefverkehr als radikaler Vertreter der NS-Euthanasie, der einen weit über das übliche Maß hinausgehenden Pflichteifer an den Tag legte. Er unterstützte die Zusammenstellung der für die Tötung in Betracht kommenden PatientInnen. Die Streichungen arbeitsfähiger Pfleglinge von den Todeslisten überließ er dem Primar der Heil- und Pflegeanstalt Hall, Ernst Klebelsberg, oder den Leiterinnen der geistlich geführten Anstalten. In der Regel akzeptierte er deren Entscheidungen, bei den zumeist schwer behinderten Kindern in Mariathal bei Kramsach wollte Czermak jedoch keine Ausnahmen bewilligen. Er konnte sich in all seinen Entscheidungen der Rückendeckung des Gauleiters, dessen enger Vertrauter er war, gewiss sein. Enorme Anpassungsfähigkeit und ein ausgeprägtes Karrierebewusstsein sind in höchstem Maß charakteristisch für Czermaks Verhalten. Als ihn Dr. Lonauer bei Kriegsende zum Dank dafür, dass er ihm „seinerzeit geholfen habe, die Anstalten des Gaues Tirol zu leeren“, bat, seine Frau und seine beiden Kinder angesichts der heranrückenden alliierten Truppen in einer der Gauanstalten unterzubringen, zeigte sich Czermak „selbstverständlich bemüht“, seinem Anliegen zu entsprechen. Noch Mitte April 1945 schlug Czermak Dr. Lonauer vor, in der Heilanstalt Hall für „die Reduzierung des Krankenstandes“  zu sorgen, „denn die Anstalt ist zum Bersten voll.“ Auf diese Weise wäre, so Czermak, den Interessen beider gedient. Czermaks Opportunismus, sein Glaube an den Nationalsozialismus und sein Drängen auf eine radikale Verringerung der Zahl psychisch Kranker und Behinderter erreichten in den letzten Kriegswochen einen negativen Höhepunkt.

Die auffällig hohe Todesrate in der Heil- und Pflegeanstalt Hall selbst, legt zudem den Verdacht der Durchführung einer „Hungereuthanasie“ mit führender Beteiligung Czermaks nahe.

„Ich leide sehr an Gedächtnisschwäche und kann mich dzt. nicht mehr an alles erinnern.“ – Die Rechtfertigungsstrategie von Dr. Hans Czermak vor Gericht

Hans Czermak wurde am 10. Mai 1945 vom amerikanischen Geheimdienst CIC verhaftet und in den Lagern Ulm, Ludwigsburg und Glasenbach interniert. Am 24. Juni 1947 erfolgte die Überstellung ins landesgerichtliche Gefangenenhaus Innsbruck. Am 22. Juli 1947 wurde Czermak ins Gefängnis des Landesgerichts Linz gebracht, zeitweilig war er im Arbeitshaus Suben, knapp vier Kilomenter von Schärding entfernt, verwahrt. Am 20. Februar 1948 bestimmte der Oberste Gerichtshof, dass das Ermittlungsverfahren gegen Czermak nicht in das Linzer Hartheim-Verfahren einzubeziehen war. Mit der Klärung der Zuständigkeit des Volksgerichts in Innsbruck wurde Czermak am 8. Juli 1948 ins landesgerichtliche Gefangenenhaus nach Innsbruck rücküberstellt. Am 26. Juli 1949 erfolgte die Anklage wegen der „entfernteren Mitschuld“ am Verbrechen des Meuchelmordes und des Hochverrates (wegen Czermaks illegaler Betätigung für die NSDAP). Im Folgenden soll näher beleuchtet werden, wie der Angeklagte sein Verhalten in der NS-Zeit vor Gericht rechtfertigte.

Czermak bekannte sich nicht schuldig und wies jede Verantwortung für die Morde von sich. Er habe nicht über den Tod der „Geisteskranken“ zu entscheiden gehabt und habe folglich aus eigenem Antrieb überhaupt nichts veranlasst. Dabei war er es, der den NS-Euthanasiegutachter Dr. Friedrich Mennecke Ende August, Anfang September 1940 mit seiner ärztlichen Kommission in Hall einführte. Mennecke und sein Personal sichteten drei Tage lang die Krankengeschichten, ohne Untersuchungen vorzunehmen. Die Krankengeschichten der PatientInnen, die sie mitnahmen, dienten als Grundlage für die Erstellung der „Transportlisten“. Kurz davor hatte die Abteilung Czermaks die Leitung  der Heil- und Pflegeanstalt Hall angewiesen, die Krankengeschichten für die Kommission so herzurichten, dass aus ihnen die Arbeitstätigkeit der PatientInnen hervorging bzw. „ob, wie oft, und vom wem der Patient besucht wird“.

Czermak arbeitete also von Anfang an in führender Position im Gau an der Vorbereitung der Morde mit. Doch trotz dieses Umstandes und seines hohen Maßes an Eigeninitiative bei der Durchführung der NS-Euthanasie rechtfertigte er sich vor Gericht stets mit Befehlsnotstand und Direktiven von Berlin. Er habe keine Möglichkeit gesehen, in eine „Reichsaktion“ einzugreifen, „die in allen Einzelheiten“ angeordnet gewesen wäre. Doch während sich Czermak auf der einen Seite als reinen Befehlsempfänger präsentierte, stellte er diese Verteidigungslinie indirekt selbst in Frage, da er sich sogar als Lebensretter ins Spiel brachte und somit seine Einflussmöglichkeiten aufzeigte. Wegen seines großen Verantwortungsbewusstseins sei er nicht zurückgetreten. Durch sein enges Vertrauensverhältnis zu Gauleiter Hofer habe er bei diesem erreicht, dass Primar Klebelsberg die Befugnis erhielt, all jene PatientInnen von den Todeslisten zu streichen, die arbeitsfähig waren und bei denen Aussicht auf Heilung bestand. Er habe Klebelsberg, von dem er gewusst habe, dass er ein Gegner der „Euthanasie“ und ein ausgewiesener Fachmann war, bei den Streichungen freie Hand gelassen. Mit ihm gemeinsam habe er „eine große Zahl von Personen“ gerettet. Ohne sein Eingreifen hätte die „vollkommene Vernichtung“ der „Geisteskranken“ gedroht. Ihm und Klebelsberg, den er gegenüber den Zentralstellen in Berlin abgeschirmt habe, sei es klar gewesen, dass ihren Möglichkeiten zur Verringerung der Anzahl der TodeskandidatInnen Grenzen gesetzt waren. Um keine Gefahr heraufzubeschwören, habe er die Streichungen so vorgenommen, dass auf keinen Fall der Vorwurf der Sabotage eines Führererlasses erhoben hätte werden können. Er selbst habe jedenfalls weder einen Kranken für die „Euthanasie“ vorgeschlagen, noch jemals eine Liste angefertigt. Czermak behauptete sogar anfangs, aus Eigenem unter Mithilfe von Klebelsberg Streichungen vorgenommen zu haben, was dieser entschieden in Abrede stellte. „Ich war jedoch vom ganzen Problem der Euthanasie so stark beeindruckt, dass ich mich verpflichtet gefühlt habe, mich in diese Sache einzuschalten, denn es war mir von Anfang an klar, dass ich bestimmt mit Fanatismus alles unternehmen werde, damit jeglicher Missbrauch verhindert werde.“, so Czermak. Er sei in der Gauleitung und Reichsstatthalterei allein auf weiter Flur gestanden, weil alle die „Euthanasie“ bejaht hätten.

Als der erste Transport von Hall nach Hartheim abging, begab sich Czermak vor Ort. Er hätte sich davon überzeugen wollen, „dass keine Verstösse gegen die Menschlichkeit oder Roheitsakte vorkommen.“ Dies sei wegen des geschulten Personals auch nicht der Fall gewesen und die zu Ermordenden wären in den Genuss eines „bequemen Transports“ gekommen.

Auch wenn Czermak aus eigennützigen Gründen dreist log und seine Argumentation der Menschlichkeit der Realität des Massenmordes Hohn spricht, so ist zu berücksichtigen, dass es ihm als Mittäter für die Konstruktion seines Selbstbildes wichtig war, entsprechend seinem subjektiven ethischen Empfinden „anständig“ zu bleiben. Er hatte eine Aufgabe zu erfüllen, die ihm gestellt war und die er so gut wie möglich auch erfüllen wollte. Czermak war bedenkenlos bereit, seinen Beitrag bei den Morden zu leisten, die jedoch – ein Widerspruch in sich – möglichst „human“ bzw. ohne unnötiges Leid und Aufsehen vor sich gehen sollten. Über allen pseudohumanen Überlegungen stand ein Ziel: Die Transporte sollten effizient abgewickelt werden können.

Czermak argumentierte, dass er sich verpflichtet gefühlt habe, „gewissermassen darauf zu drängen, dass die Anstalten Hall bezw. Valduna entleert würden“, weil im Gau großer Raummangel bei der Unterbringung TBC-Kranker bestand. Der Tod „unheilbarer Geisteskranker“ sollte das Leben von TBC-PatientInnen retten helfen. Damit gab Czermak aber zu, dass er einem der Prinzipien der NS-Euthanasie folgte, nämlich die Kosten im Pflegebereich durch die Tötung „unwerten Lebens“ zu senken und die dadurch freiwerdenden Ressourcen „arischen“ und produktiven VolksgenossInnen zugute kommen zu lassen. Er habe es als menschlicher angesehen „unheilbar Geisteskranke“ der „Euthanasie“ zuzuführen, als deren Lebensbedingungen so einzuschränken, wie es das Reichsinnenministerium vorgeschlagen habe (Verdichtung der Belegung, Einschränkung der Heizung, Lebensmittelentzug etc.). Zudem hätten sonst auch die geringfügig Erkrankten unter einem Teil dieser Maßnahmen zu leiden gehabt. Den Vorschlag Dr. Lonauers, eine eigene „Euthanasieabteilung“ in der Heil- und Pflegeanstalt Hall einzurichten, hätte er gemeinsam mit Klebelsberg abgelehnt. Schon allein der Gedanke daran sei ihm zuwider gewesen. Andererseits habe ihn der Massenabtransport immer abgestoßen. Wenn die „Euthanasie“ (gemeint ist der Massenmord) in der für die PatientInnen gewohnten Umgebung vorgenommen hätte werden können, wären unliebsame Zwischenfälle und eine unnötige Beunruhigung der PatientInnen zu vermeiden gewesen. Dadurch hätte man zudem auch die „größte Sicherheit“ gehabt, „jeden Missbrauch“ hintanhalten zu können.

In der Frage der Verlegung psychisch Kranker und Behinderter von den Tiroler Versorgungshäusern nach Hall und weiter nach Hartheim verwickelte sich Czermak in Widersprüche. Er gab an, Klebelsberg ermuntert zu haben, PatientInnen nach Hall zurück zu holen, um diese unter seinem Schutz zu stellen. So hätte er gewährleisten wollen, dass niemand ohne Klebelsbergs Kontrolle deportiert werden konnte. Im selben Atemzug gab er zu, durch die Konzentration der PatientInnen in der Heil- und Pflegeanstalt Hall die Effizienz der Abwicklung der Transporte im Auge gehabt zu haben. Darüber hinaus wiederholte er seine bekannte Argumentation der Opferung „unheilbar Geisteskranker“ zugunsten der Errichtung einer TBC-Heilstätte.

Die Haltung Czermaks vor Gericht hinsichtlich des Abtransports der Kinder und Jugendlichen aus der „Idiotenanstalt Mariathal“ bei Kramsach offenbarte seine persönliche Zustimmung zur Anordnung Hitlers, „unheilbar Kranke“ zu töten. Er war nicht bereit, den einen oder die andere von der Todesliste zu streichen. Czermak hob hervor, dass er sich bei diesem Transport am wenigsten für die Rettung von PatientInnen eingeschaltet hatte: „Der Zustand der Kinder in Mariathal war ein solcher, dass jede Intervention von meiner Seite auf energische Ablehnung gestossen wäre, da dies einer Sabotage der ganzen Aktion gleichgekommen wäre.“ Seine Wahrnehmung anlässlich einer Inspektion von Mariathal mit seinem Untergebenen, dem Dezernatsleiter des Gaufürsorgeverbandes Alfons Schwaiger, schilderte Czermak dem Gericht folgendermaßen: „Dieser Besuch ist mir unvergesslich, denn hier sah ich die bedauernswertesten aller Wesen, die weit unter dem animalischen Niveau nur mehr dahinvegetierten.“ Gegenüber der Anstaltsleiterin bemerkte er, „dass wohl ein ‚eigener Magen‘ dazu gehöre, ständig bei diesen Kindern zu sein und sich um solche nichtswürdige Wesen anzunehmen.“

Besonders betont werden muss, dass entgegen den Behauptungen der (Mit)Täter auch Menschen mit geringfügigen Krankheitssymptomen ermordet wurden. So stellte etwa die Leiterin der Anstalt Mariathal im Gegensatz zu Czermaks Aussage, dass „nur“ schwerstbehinderte Kinder, die den Bestimmungen von Hitlers Ermächtigungsschreiben entsprachen, deportiert wurden, fest:

„Unter den abtransportierten Kindern waren eine Reihe von Kindern, die sehr viel gearbeitet haben und wertvoller waren als mancher Dienstbote. Ich habe dringend gebeten, man solle diese Kinder hier lassen, es wurde jedoch nicht bewilligt.“

Czermak bestätigte vor Gericht, dass für ihn der Begriff Euthanasie „Ausdruck äußerster Menschlichkeit“ darstelle, bei dem es sich „nicht um ein Verbrechen an sich“ handle, sondern um ein wissenschaftliches Problem, das so alt wie die Menschheit wäre:

„Grundsätzlich stehe ich nach wie vor auf dem Standpunkt, dass es Fälle geben kann, in welchem die Euthanasie den Menschen von grossem Leid erlösen kann. Trotzdem sehe ich das Problem heute noch als ungelöst an.“

Bei dieser schwierigen Frage benötige es die Ehrfurcht vor dem Leben, die bei der Vorgangsweise der deutschen Reichsregierung nicht vorgelegen habe, da sie nur töten wollte. Er selbst sei weder für noch gegen die „Euthanasie“. Es sei schwierig diesen Begriff, zu dem die sittlich hoch stehendsten Wissenschafter die verschiedensten Stellungnahmen abgegeben hätten, klar zu definieren. In die Tiroler Anstalten, in denen „Geisteskranke“ untergebracht waren, sei er nur als Beobachter im Auftrag des Gauleiters hingefahren. Er habe alles Unmenschliche zu verhindern versucht: „Ich habe getan, was ich tun konnte um zu retten.“

Seine persönliche Integrität unterstrich Czermak mit der Behauptung, dass er ein Gegner der Juden- und Kirchenverfolgung gewesen sei. Bei Gauleiter Hofer und seinem Stellvertreter Herbert Parson habe er erwirkt, dass der Jude Egon Dubsky, der in die Heil- und Pflegeanstalt Hall eingeliefert worden war und zwei Mal auf der Todesliste gestanden habe, nicht abtransportiert wurde: „Ich habe meine Berufsehre rein gehalten.“

ZeugInnenaussagen im Gerichtsprozess gegen Dr. Hans Czermak

Helmut Scharfetter

Der Vorstand der Universitätsklinik für Psychiatrie in Innsbruck, Dr. Helmut Scharfetter, unterstützte Klebelsbergs Protest gegen den Abtransport von PatientInnen aus der Heil- und Pflegeanstalt Hall, die arbeitsfähig und nicht unheilbar krank waren, bei Czermak. Dementsprechend aktiv wurde er auch auf der Universität, wo er Rektor Harold Steinacker und Dekan Dr. Lang verständigte, die dann ebenfalls beim Gauleiter vorsprachen.

Aufgrund seiner Persönlichkeit und in seiner Eigenschaft als Mitglied der NSDAP, des NS-Ärztebundes, des Ausbildungsstabes der SS sowie als Landesobmann für die Erbbiologische Bestandsaufnahme in den Heil- und Pflegeanstalten, der Vorträge vor Gesundheitspflegerinnen der Gesundheitsämter über die Erb- und Rassenlehre hielt, hatte sein Wort bei Czermak und Gauleiter Hofer Gewicht. Seine Haltung zur „Euthanasie“ war jedoch zwiespältig. Obwohl er wusste, dass psychisch Kranke und geistig Behinderte in der Heil- und Pflegeanstalt Hall in Gefahr waren, abtransportiert und getötet zu werden, versuchte er Angehörige seiner PatientInnen an der Innsbrucker Psychiatrie, die sich aus Angst um das Leben ihrer Lieben einer Verlegung nach Hall widersetzten und sie nach Unterzeichnung eines Revers nach Hause nahmen, davon zu überzeugen, dass ihr Misstrauen unbegründet wäre. Scharfetter ging aber noch einen Schritt weiter und bekundete gegenüber Czermak Ende Jänner 1942 seine ablehnende Haltung gegenüber dieser Vorgangsweise der Angehörigen der Kranken: „Es ist aber schon unerfreulich genug, daß durch solche Entlassung gesunde Familienmitglieder gebunden und mit einer Pflege belastet werden, die viel besser der Anstalt übertragen würde.“

Vor Gericht stellte er fest, dass er nicht überrascht war, als er von der Mordaktion erfuhr, da er sich „schon früher mit der Frage befasst“ habe. Seine persönliche Einstellung zur „Euthanasie“ kundzutun, hielt er für „überflüssig“.

Scharfetters Zeugenaussage fiel für Czermak günstig aus. Seiner Erinnerung nach hatte sich Czermak anlässlich seiner gemeinsamen Vorsprache mit Klebelsberg wegen der Verringerung der abzutransportierenden PatientInnen nicht abweisend gezeigt. Czermak soll mit Blick auf die Sichtung durch die auswärtigen NS-Euthanasieärzte gesagt haben: „Ja wissen Sie, meine Herren, das ist eine Kommission, die auf höchstem Befehl kommt, aus dem Lande hinausweisen können wir Sie nicht. Ich werde sehen, was sich machen lässt.“ Alle drei hätten sich gemeinsam darauf geeinigt, dem Gauleiter die Formulierung vorzuschlagen, dass „nur mehr vegetierende, also gewissermassen geistig Tote“ deportiert werden dürfen. Scharfetter glaubte sich auch daran erinnern zu können, dass Klebelsberg für diese Vorgangsweise „eine Art Einspruchsrecht“ erhalten habe. Zur Benennung der Deportation der Kranken in die Tötungsanstalt Hartheim bevorzugte Scharfetter vor Gericht die Verwendung des Wortes „Verlegung“. Resümierend hielt er fest: „Jedenfalls ist die Aktion in Tirol weit weniger aktiv ausgefallen als in anderen Bundesländern.“ Für Scharfetter hatte Czermak ein „konziliantes“ Wesen, zwar konfus und leicht ablenkbar, jedoch nicht brutal.“

Ernst Klebelsberg

Ernst Klebelsberg trat 1910 in die Heil- und Pflegeanstalt Hall ein, wo er seit 1925 die Funktion eines Primars ausübte. Im Volksgerichtsprozess gegen Czermak, welcher der einzige Prozess in Österreich war, der sich mit der Verantwortung für den Abtransport der Opfer der NS-Euthanasie auseinandersetzte, diente Klebelsberg, der nachweislich über 100 PatientInnen das Leben gerettet hatte, als Kronzeuge. Vor Gericht behauptete er, sich vor 1938 mit der Frage der „Euthanasie“ nicht beschäftigt zu haben. Gleichzeitig sagte er aus, in dieser Angelegenheit immer ein Gegner gewesen zu sein, da man, wenn einmal die Schranken geöffnet würden, nicht verhindern könne, „dass Verbrechen vorkommen.“

Als Klebelsberg wenige Monate nach der Sichtung der Krankengeschichten der Haller PatientInnen durch Dr. Friedrich Menneke und seinem Stab vom stellvertretenden Leiter der Tötungsanstalt Hartheim, Dr. Georg Renno, eine Liste mit Namen von Kranken erhielt, die Ende 1940 in eine andere Anstalt verlegt werden sollten, zog Klebelsberg seine Schlüsse. Er glaubte, so seine Zeugenaussage vor Gericht im Mai 1946, dass ihnen „was passiere“, da er wusste, dass aus Wiener und niederösterreichischen Anstalten bereits PatientInnen „weggebracht“ worden waren. Klebelsberg behauptete in Unkenntnis des Bestimmungsortes seiner Kranken gewesen zu sein: „Irgendeine diesbezügliche Frage an Dr. Renno stellte ich nicht.“ Über zwei Jahre später, im August 1948, hörte sich seine Zeugenaussage vor Gericht anders an. Zwar habe er bereits 1940 Gerüchte über ein mysteriöses Verschwinden von Kranken aus Heil- und Pflegeanstalten Deutschlands gehört, diesen aber keinen Glauben geschenkt. 1949 unterstrich Klebelsberg nochmals, nicht gewusst zu haben, wohin seine PatientInnen transportiert wurden und dass er es nun immer noch nicht wisse. Er vermutete Anstalten in Mitteldeutschland.

Bei seiner ersten Vernehmung im Mai 1946 gab Klebelsberg noch an, dass Czermak anlässlich seiner gemeinsamen Vorsprache mit Scharfetter, um die Bedenken wegen des Abtransports arbeitsfähiger und geringfügig kranker PatientInnen vorzubringen, sich abweisend verhalten und erst auf Intervention Scharfetters bereit erkärt hatte, die Angelegenheit dem Gauleiter vorzutragen. Bei der Hauptverhandlung über drei Jahre später wollte Klebelsberg nicht den Eindruck gehabt haben, dass Czermak „die Sache nur abwimmeln wollte“. Es bedurfte der hartnäckigen Nachfrage des Staatsanwalts, bis er bestätigte, dass Czermak zur Vorsprache bei Gauleiter Hofer gedrängt werden musste. Klebelsberg konnte nach dem Gespräch Czermaks mit Hofer zur Rettung von Menschenleben die „Siebung der Abzutransportierenden“ mit „seinem gesunden Hausverstand“ vornehmen:

 „Wir kamen überein, dass die Arbeitsgesunden gestrichen werden sollten und ich habe auch von dem dann Gebrauch gemacht. Gestrichen sollten alle die werden, die einigermassen für uns brauchbar waren, bzw. Leute, die vorübergehend in der Anstalt waren. Wir haben uns wohl selbst alle gedacht, dass im Falle wir zu grosszügig mit dem Streichen verfahren, eben Anstoss erregten und dann die ganze Anstalt ausgeräumt werde. Dies war meine Überzeugung. Der Angeklagte hat mir eine Generalvollmacht gegeben und hat sich dann nicht mehr genauer gekümmert.“

Klebelsberg entschied entsprechend der Vereinbarung, dass die Produktivität eines Menschen und seine Arbeitsbereitschaft seinen Lebenswert bestimmten, nicht nur nach medizinischen, sondern auch nach sozialen Kriterien. Demzufolge erhielten die Abtransportierten Etikettierungen wie „zunehmende Verblödung, arbeitsunfähig“, „für geordnete Arbeit unfähig“, „widerspenstig, zu keiner Arbeit zu bringen“. Unangepasstheit, „rassische Minderwertigkeit“ und behauptete „Asozialität“ spielten bei der Auswahl der zu Ermordenden eine wesentliche Rolle.

Bei seiner Tätigkeit stand Klebelsberg vor einem großen Dilemma. Auf der einen Seite konnte er unzählige Menschen vor dem sicheren Tod bewahren, auf der anderen Seite musste er sich unweigerlich am Prozess der Vernichtung beteiligen und eine Entscheidung treffen, wer überleben konnte und wer nicht:

„Ich habe tunlichst gestrichen, ich habe nur die ganz schweren Fälle gehen lassen und was einigermassen zurückbehalten werden konnte, habe ich zurückbehalten. Diejenigen, die 20 und 30 Jahre in der Anstalt waren, konnte ich nicht halten. (…)

Ich habe die Auswahl getroffen, ob der wegkommt oder nicht, aber nicht darüber, ob er leben dürfe oder nicht. Wenn ich die Zustimmung nicht gegeben hätte, wären die Leute doch nicht gerettet worden.“

Dabei war ihm klar: „Diejenigen, die nicht gestrichen worden sind, waren erledigt.“ Klebelsberg musste weder dem Gauleiter noch Czermak die Personen, die er von den Todeslisten gestrichen hatte, weitermelden. Es habe sich dafür niemand interessiert.

Als sich Angehörige Ermordeter bei ihm wegen der Wegbringung ihrer Verwandten aus der Heil- und Pflegeanstalt ohne ihre Einwilligung bitter beschwerten, erklärte ihnen Klebelsberg, nicht zuständig zu sein. Vor Gericht rechtfertigte Klebelsberg sein damaliges Schweigen damit, dass er seine Rettungsaktionen nicht gefährden wollte und der Druck von Gauleiter Hofer so groß gewesen sei. Nach der Beschwerde eines Angehörigen, der selbst Nationalsozialist war und sogar Gauhauptmann Gustav Linert alarmiert hatte, waren Klebelsberg und Linert von Hofer vereidigt worden, dass, so Klebelsberg im Mai 1946 vor Gericht, „wir von der ganzen Angelegenheit nichts wissen und zu schweigen haben. Ich wusste offiziell tatsächlich nichts und konnte den Eid auch ruhig ablegen.“ Bei der Hauptverhandlung gegen Czermak berichtete Klebelsberg sogar, dass der Gauleiter ihm eröffnet habe, „wenn ich ein Wort sage, sei ich des Todes.“

Die Abtransporte von Hall und die dann einlangenden Todesnachrichten waren Klebelsberg so „widerlich“, „dass ich mich einmal nach Abgehen eines solchen Transportes nach Volderwildbad begab, um mich etwas zu erholen.“ Seine Erholungsbedürftigkeit lässt sich auch aus dem Umstand erklären, dass seine Halbjahresmeldungen über einzelne PatientInnen samt Auszügen aus den Krankengeschichten die Grundlage für die Auswahl der zu deportierenden Pfleglinge des zweiten Transports im März 1941 bildete, in dem sich erstmals auch Pfleglinge der Versorgungshäuser Imst und Nassereith befanden. Klebelsberg half dadurch wesentlich mit, dass möglichst keine in seiner Sicht arbeitsfähigen Pfleglinge auf die Todesliste kamen. Andererseits akzeptierte er den Abtransport von als nicht arbeitsfähig oder arbeitswillig Eingestuften. Folglich verzichtete er auf eine weitere Intervention bei den politischen Entscheidungsträgern des Gaues. Vor Gericht bestätigte er seine Rolle der unfreiwilligen Beihilfe zur Selektion: „Beim zweiten Transport ist nur weggegangen, was ich verantworten konnte. Renno hat mir Richtlinien gegeben in dem Sinne, alles was unheilbar ist, solle weg.“

Ein wesentlicher Punkt von Czermaks Rechtfertigungsstrategie war die Behauptung, dass er die PatientInnen verschiedener Anstalten nur deshalb in die Heil- und Pflegeanstalt Hall schaffen ließ, um mit Hilfe von Klebelsberg zu gewährleisten, dass tatsächlich „lediglich“ unheilbar Kranke abtransportiert wurden. Klebelsberg bestritt einen Auftrag von Czermak zur Sichtung der PatientInnen außerhalb von Hall erhalten zu haben. Allerdings geriet er selbst in die Defensive. Im Gegensatz etwa zum Leiter der Heil- und Pflegeanstalt Valduna in Vorarlberg hatte Klebelsberg als Gegner der Mordaktion keine Initiative ergriffen, die Versorgungshäuser zu leeren. Der Staatsanwalt machte ihm allerdings den Vorwurf der unterlassenen Hilfeleistung. Klebelsberg unterstrich, dass sich die nach Hall verbrachten PatientInnen aus den Versorgungshäusern Nassereith, Imst und Ried nur über Nacht in Hall aufgehalten hatten. Er hätte ansonsten mit ihnen nichts zu tun gehabt. Seine Vollmacht, PatientInnen von den Listen zu streichen, habe sich nur auf die Anstalt Hall bezogen:

„Die Leute [vom Versorgungshaus Ried] kamen von oben herunter und blieben bei mir nur als Etappe. Hier hätte ich keine Überprüfung durchführen können. Die Leute verschwinden zu lassen, wäre nicht möglich gewesen. Auf die Transporte von aussen habe ich keinen Einfluss gehabt. (…) Wenn ich gesagt hätte, da tue ich nicht mehr mit, dann wäre ich draussen gelegen und es wäre ein Schärferer gekommen und alle wären vernichtet worden.“

Klebelsberg musste jedoch zugeben, dass er sich beim Abtransport der Menschen aus den Versorgungshäusern und dem St. Josef Institut Mils durchaus organisatorisch mitbeteiligt hatte. Dr. Renno und Dr. Lonauer hatten die Todeslisten zusammengestellt, Klebelsberg hatte Auszüge aus den Krankengeschichten zu verfassen. Auf die Frage des Staatsanwalts, ob er sich als Beamter über diese Befehle keine Gedanken hätte machen oder bei Czermak genauer nachfragen hätte müssen, antwortete Klebelsberg: „Ich habe mich auf Grund des Amtssiegels verpflichtet gefühlt. Es ist ein amtlicher Auftrag gekommen.“ Dann urgierte der Staatsanwalt: „Warum haben Sie sich nicht um die Leute gekümmert?“ Daraufhin Klebelsberg: „Die Leute waren nur zum Durchlauf da!“ In Bezug auf die PatientInnen von Mils, die ohne die Zwischenstation Hall zu nehmen direkt nach Hartheim deportiert wurden, stellte Klebelsberg fest: „Ich habe bei der Ausfüllung der Listen auf die Oberin gehorcht.“ Er betonte, dass er sich um die auswärtigen PatientInnen gekümmert hätte, wenn sie ihm unterstanden wären und hob hervor: „Ich habe von der Euthanasie nichts Genaues gewusst. Ich habe überhaupt nichts zu entscheiden gehabt. Ich habe nur zu entscheiden gehabt, in welchem Zustand sich die Leute befinden.“

In dieser Situation entlasteten sich Czermak und Klebelsberg gegenseitig. Klebelsberg verneinte, dass Czermak ein Scharfmacher gewesen war. Schon alleine dessen Vorsprache beim Gauleiter beweise das Gegenteil. Wenn Czermak sich gegen die Abtransporte gestellt hätte, wäre er seiner Ämter enthoben worden. Czermak wiederum gab sich davon überzeugt, dass Klebelsberg alles für die PatientInnen der außerhalb von Hall gelegenen Anstalten getan hätte, wenn dies in seiner Macht gelegen wäre. Mit der Verteidigung Klebelsbergs verteidigte sich Czermak umso mehr in eigener Sache:

„Ich sehe auf Grund der Aussage, dass Klebelsb. hinsichtlich dieser Kranken durch Renno unter einem gewissen Druck stand. Wenn Renno ausgesucht hat, musste Klebelsberg den Eindruck haben, dass er über diese Kranken nicht verfügen kann. Wenn er mich auch in diesem Falle angerufen hätte, hätte ich über die von Renno aufgestellten Listen nicht verfügen können. Er hat keinen besonderen Auftrag von mir gehabt die Leute zu untersuchen.“

Beim letzten Todestransport von Hall nach Oberösterreich im August 1942 erhob Klebelsberg keine Einwände. Bei der wesentlich von Czermak mitbestimmten Auswahl der PatientInnen für die Todesliste ist schwer vorstellbar, dass Klebelsberg kein Mitspracherecht hatte, noch dazu, wo er zwei Tage vor der Übermittlung der Namen der betroffenen Menschen durch Czermak noch mit diesem zusammengetroffen war. Es bestehen jedenfalls keine Zweifel, dass Klebelsberg dieses Mal den Zielort der 31 Männer und 29 Frauen kannte. Im Eingangsbuch von Hall wurde bei ihnen jeweils vermerkt: „überstellt Anstalt Niedernhart“.

Die geistlichen Schwestern: Erharda Hendlmaier und Martha Puschmann

Als Anfang Dezember 1940 eine Transportliste im St. Josef Institut Mils einlangte, strich Schwester Erharda Hendlmaier, welche die schwer erkrankte Oberin vertrat, zahlreiche PatientInnen, die arbeitsfähig waren. Dass die auf der Liste stehenden PatientInnen getötet werden sollten, war den Klosterfrauen klar. Hendlmaier begab sich daher nach Innsbruck zu Monsignore Michael Weiskopf, der ihr den Rat erteilte, die Angehörigen zu verständigen. In der Tat hätte eine derartige Vorgangsweise viel Staub aufgewirbelt und die Mordaktion vielleicht sogar verhindern können. Dass es möglich war, den Abtransport Kranker zu verweigern, zeigt die telefonische Intervention von Oberbürgermeister Egon Denz bei Gauleiter Hofer. Denz konnte dadurch die Miteinbeziehung der Innsbrucker Heime in die NS-Euthanasie abwehren. Nachteile musste er keine in Kauf nehmen. Allerdings ist anzunehmen, dass der kirchenfeindliche Gauleiter gegen die Ordensschwestern Repressalien in die Wege geleitet hätte.

Schließlich wurde in Kramsach, nachdem die Schwestern – vermutlich durch Klebelsberg – von der Möglichkeit der Streichungen erfahren hatten, nicht die Konfrontation, sondern die Zusammenarbeit mit Czermak gesucht, um einen Teil der Kranken zu retten. Wer für diese Entscheidung letztlich zuständig war, wusste Hendlmaier nicht. So wie Klebelsberg standen auch die Schwestern vor der Problematik auswählen zu müssen, wer überleben konnte. Der Ermessensspielraum führte unweigerlich zu Widersprüchlichkeiten:

„Einen Kranken hatten wir, er hiess mit dem Vornamen Herbert, der hat einfach nichts getan und daher konnten wir ihn auch nicht als Arbeitenden angeben. Wenn ich ihn um die Post schickte, tat er es einfach nicht. Er sass immer in der Sonne und tat nichts. Er ist dann als es zum Abtransport kam, davon gelaufen, weil er um sein Schicksal wusste. Um einen Irren hat es sich in diesem Fall nicht gehandelt.“

 Auf die Frage des Vorsitzenden, warum sie nicht versucht habe, ihn von der Mordaktion auszunehmen, antwortete sie:

„Unsere Auswahl war getroffen. Diejenigen, die abgingen, waren alle schwer geistig belastet. (…) Richtlinien hat uns niemand gegeben. Wir hielten uns nach den Formularien. Wenn jemand kleine Arbeiten machen konnte, hat dies zur Herausnahme genügt. Einstudiert, um zu ermessen, ob eine Geisteskrankheit heilbar oder nicht heilbar sei, sind wir nicht worden, wir urteilten nach menschlichem Ermessen. Wir brauchten die Leute zum Aufrechterhalten des Anstaltbetriebes. Zurückbehalten sind diejenigen worden, die etwas leisten konnten. Die Auswahl ist nicht vom Gesichtspunkt der Nützlichkeit für die Anstalt getroffen worden.“

„Dr. Czermak war sehr nett und entgegenkommend.“, berichtete Hendlmaier vor Gericht. In den Genuss der Höflichkeit Czermaks kam auch ein Innsbrucker, der seine Tochter in Mils untergebracht hatte. Einen Tag vor ihrem Abtransport begegnete er Czermak im St. Josef Institut und wurde von ihm zur Rückfahrt nach Innsbruck in seinem Dienstauto eingeladen. Über die bevorstehende Verschickung der Tochter, die sehr wohl in der Lage war, ihre Umwelt bewusst wahrzunehmen, schwieg sich Czermak aus.

Auch in Nassereith wussten die Schwestern des Versorgungshauses Bescheid, dass PatientInnen, die verlegt wurden, der Tod drohte. Czermak informierte die Schwestern bei seinem Besuch in Nassereith mit Dr. Renno, der die Transportliste mitgebracht hatte, dass die auf der Liste stehenden Kranken verlegt würden, dass aber Arbeitsfähige noch gestrichen werden konnten. Die Leiterin, Schwester Martha Puschmann, akzeptierte die Anordnung, weil sie Czermak als ihren Vorgesetzten auf staatlicher Seite betrachtete. Entsprechend ihren Angaben wurden zehn Pfleglinge von der Todesliste gestrichen. Auch Puschmann verstrickte sich bei der Frage ihrer Auswahlkriterien in Ungereimtheiten. Sie habe die PatientInnen entsprechend ihrer Arbeitsfähigkeit ausgesucht, einige auch hinsichtlich einer Rücksichtnahme auf Angehörige. „Unter den übrigen 22, die zum Abtransport bestimmt waren, befanden sich nur unheilbar Geisteskranke, von denen aber doch etliche noch zur Arbeit verwendbar gewesen wären.“ Puschmann hatte aber auch angegeben, dass sich im Versorgungshaus Nassereith vorwiegend „leichtere Fälle von Geisteskranken“ befanden. Bei der Hauptverhandlung über ein Jahr später betonte sie, dass es sich bei den Abtransportierten um „leichte Fälle von Epileptikern“ gehandelt habe, um kurz darauf auszusagen, dass niemand von ihnen arbeitstauglich war. Diese Widersprüche fielen auch dem Gericht auf. Puschmanns Erklärungen wurden aber noch konfuser: „Wenig haben sie [die Abtransportierten] gemacht. Zum Arbeiten beim Kartoffelschälen waren keine dabei. Zum Nähen vielleicht.“ Schließlich bemerkte sie: „Die Kranken, die weggekommen sind, haben schon gewusst, dass ihr Leben zu Ende ist. (…) Ich habe nach bestem Gewissen ausgesucht und auch schwerere Fälle zurückbehalten.“ Dr. Renno hatte jedenfalls an den Streichungen nichts auszusetzen. Er soll jedoch Puschmann gedroht haben, alle auf der Liste stehenden Kranken abzuholen, wenn sie zu viele streichen würde.

Czermak hatte wie üblich, alles Nötige für die Organisation des Abtransports in die Wege geleitet, aber vor Ort die Verantwortung von sich geschoben. Ohne Angaben zu machen, wie viele Menschen vom Transport ausgenommen werden konnten, ermöglichte er Streichungen, welche die Schwestern selbst vornehmen mussten. Während Puschmann mit Dr. Renno wegen der Zusammenstellung der Liste beschäftigt war, nützte Czermak seinen Aufenthalt in Nassereith zum Besuch eines Jagdfreundes. Folglich präsentierte er sich vor Gericht wieder als Lebensretter, der sich „nie“ an der „Auslese“ beteiligt habe und nur in der Rolle des „Beobachters“ aufgetreten wäre. Schwester Puschmann nahm Czermak jedenfalls in Schutz, indem sie aussagte, dass Dr. Renno bereits mit einer fertigen Transportliste gekommen war, Czermak „hätte da nichts mehr machen können.“

Czermak unterstützte und intensivierte die NS-Euthanasie in Tirol, legte seine treue Ergebenheit gegenüber allen vorgesetzten Stellen an den Tag und förderte dadurch seine berufliche Karriere. Indem er Klebelsberg und die Klosterschwestern bei der Streichung von PatientInnen von den Todeslisten gewähren ließ, entschlug er sich der Übernahme von Verantwortung. Gleichzeitig konnte er durch eine derartige Vorgangsweise sein Gewissen beruhigen und sich selbst ein moralisch einwandfreies, ja menschliches Verhalten attestieren. Es darf nicht außer Acht gelassen werden, dass auch die brutalsten und charakterlosesten Mörder wie Dr. Lonauer und Dr. Renno in Tirol den Streichungen von PatientInnen von den Transportlisten keine besondere Aufmerksamkeit schenkten und sie prinzipiell akzeptierten. Die Streichungen trugen zur Legitimation der Morde bei und wirkten nicht nur positiv auf die Moral und das Selbstverständnis der Täter, sie erhöhten auch die Effizienz des bürokratischen Mordprozesses, indem sie den Widerstand der AnstaltsleiterInnen schwächten und deren Mitwirkung in dem Maße sicherstellten, wie es der Tötungsaktion förderlich war. Auch die Gefahr eines Überhandnehmens des von den Machthabern gefürchteten Aufbegehrens der Angehörigen ließ sich dadurch verringern, da die „Treffsicherheit“ erhöht und das Protestpotential aus Sicht der NS-Behörden nicht unnötig vergrößert wurde. Die Rettung von PatientInnen durch die Beteiligung von GegnerInnen der NS-Euthanasie bewirkte daher eine für das NS-Regime wünschenswerte Korrektur, die für eine reibungslosere Abwicklung des Massenmordes sorgte.

„Er war gutmütig, niemals gehässig und ließ auch andere gut leben.“ – Das ärztliche Gerichtsgutachten über Dr. Hans Czermak

Gerhart Harrer, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie an der Universitätsnervenklinik Innsbruck, und Gerichtsarzt Dr. Emil Kofler erstellten im Auftrag des Gerichts ein Gutachten über Czermak, das sich auf körperliche und psychiatrische Untersuchungen, den Gerichtsakt und auf Angaben seiner Ehefrau, des Vorstandes der Innsbrucker Psychiatrie Helmut Scharfetter und von Landessanitätsdirektor Josef Schranz stützte.

Im Gutachten wird Czermak als gutmütiger und weltfremder Idealist beschrieben, der sich jeder Situation anpasste, leicht beeinflussbar war und blinden Gehorsam an den Tag legte. Die Gutachter interpretierten diese von ihnen konstatierten Eigenschaften und Verhaltensweisen wohlwollend zugunsten von Czermak. Aufgrund seiner fachlichen Inkompetenz und seiner Charaktermängel erschien er den beiden Gutachtern als ein urteilsschwacher Mensch, der die Folgen seines Handelns nicht überblickte und dessen Verhalten durch seinen beeinträchtigten Gesundheitszustand negativ beeinflusst wurde. Wie sah nun dieses Gutachten, das Czermak zwar bescheinigte, weder geisteskrank zu sein, noch an einer gleichzusetzenden Störung zu leiden, ihn jedoch ansonsten in großem Umfang entlastete und phasenweise sogar als Opfer darstellte, im Einzelnen aus?

Die beeindruckende politische Karriere Czermaks im NS-System wurde mit dessen Idealismus in Verbindung gebracht. So habe er für eine Tätigkeit in der Partei und im NS-Staat mit der Aufgabe seiner Facharztpraxis finanzielle Verluste in Kauf genommen. Er wäre „seiner kindlich anmutenden Ergebenheit gegenüber dem Gauleiter“ gefolgt und könne

„als ein ausserordentlich autoritätengläubiger Nationalsozialist bezeichnet werden, der im blinden Gehorsam das tat, was seine Parteidienststellen für richtig hielten. Er war im gewissen Sinn Idealist, aber kein Fanatiker. Durch seine leichte Lenkbarkeit und seine Vertrauensseligkeit wurde er leicht das Opfer von Leuten, die ihm, sei es durch ihr entschiedenes Auftreten, sei es durch ihre Dienstsstellung imponierten. Er war nicht imstande, größere Projekte durchzudenken, deren Folgen zu überblicken und ließ sich oft zu übereilten Handlungen hinreissen.“

Zudem sei Czermak „neuerungssüchtig und vielgeschäftig“. Er habe Ideen aufgegriffen, ohne sie meist bis zum Ende durchzuführen. Wegen seiner ständigen fachlichen Überforderung in seinen Ämtern, für die er nicht ausgebildet war, wäre er gezwungen gewesen, vieles „untergeordneten Organen“ zu überlassen, die er ebenso wie politische Gegner gut behandelt habe. Für die Ärzte Kofler und Harrer war Czermak

„eigentlich ein primitiver Genussmensch, dem gutes Essen und Trinken und eine lustige Gesellschaft über alles ging. Er war gutmütig, niemals gehässig und ließ auch andere gut leben. Er zeigte keinerlei Neigung zu Härte, Schärfe oder Strenge, war von einer sanguinischen Oberflächlichkeit, von ausgesprochen geringer Urteils- und Kritikfähigkeit und es fehlte ihm an Umsicht. Dabei war er von einem geradezu kindischen Selbstbewusstsein und gegenüber seiner eigenen Insuffizienz einsichtslos. Von allen, die ihn kennen, wird seine ausserordentlich große Zerstreutheit, Zerfahrenheit und Schussligkeit betont.“

Czermak wäre das Schicksal eines jeden Schwerkranken, den er betreuen musste, persönlich nahe gegangen. Für ihn sei ausschlaggebend gewesen

„dass die Erlösung vollkommen unheilbarer, schwerst Geisteskranker die Möglichkeit bieten würde, hochansteckungsgefährliche Tuberkulosekranke anstaltsmässig unterzubringen. In einer Zeit, in welcher bedenkenlos 100.000 dahingeopfert wurden – der U. [Untersuchte] war stets in seinem Herzen ein Pazifist – schien ihm der Gedanke, das Dahinvegetieren schwerst Geisteskranker zu beenden, um dadurch nicht nur heilungsfähigen TBC-Kranken die Möglichkeit einer Gesundung zu bieten, sondern vor allem Tausende Gesunde vor Ansteckung und damit vor Siechtum und Tod zu bewahren, als vernünftig und billigenswert. Für den U. war die Euthanasie keine politische Frage, sondern eines der ernstesten sittengesetzlichen Probleme. Er hielt sie im Krieg für einen zweckmässigen und berechtigten Eingriff des Staates, von dem er sicher nicht vermutete, dass er später durch eine andere Auffassung widerrufen werden könnte.“

Die beiden Gutachter hoben Czermaks Argumentation hervor, dass dieser nicht an der Gesetzmäßigkeit der NS-Euthanasie zweifeln konnte, da der Reichstag Hitler mit außerordentlichen Vollmachten ausgestattet und Hitler selbst die Anordnung gegeben hatte. Czermak wurde zugute gehalten, dass er sich von Klebelsberg und Scharfetter für Streichungen Kranker von den Transportlisten umstimmen hatte lassen, „obwohl er u.U. mit erheblichen Schwierigkeiten rechnen musste.“

Eines der Hauptprobleme für Czermaks Verteidigungslinie war dessen Briefwechsel mit Dr. Lonauer bei Kriegsende, in dem dieser von Czermak aufgefordert wurde, inkognito als Oberarzt in die Heil- und Pflegeanstalt Hall einzutreten und PatientInnen zu töten. Die Gutachter versuchen das Verhalten Czermaks in diesem Zusammenhang folgendermaßen zu beschreiben:

„Wenn Lonauer ihm zumutet, als Dank für die Beseitigung von Geisteskranken eine Wohnung zu verschaffen, so stimmt er diesem Vorschlag skrupellos zu. Wenn dann wieder etwa ein Schreiben vom Tierschutzverein kommt, dass etwas für die frierenden Vögel getan werden müsse, so wird er mit warmen und vom Herzen kommenden Worten seine Unterstützung zusagen.“

Unverständlich brutale Äußerungen Czermaks würden durch dessen Angabe, dass er vieles nicht geschrieben hätte, wenn er es persönlich handschriftlich verfassen hätte müssen, verständlich. Das Diktieren in die Schreibmaschine sei wie etwas Gesprochenes und – zitieren die Gutachter Czermak – „man spreche doch mal so leicht etwas dahin, was man nicht niederschreiben würde“. In diesem Sinne, so die beiden Ärzte, „mag vielleicht auch der Brief vom 17.4.1945 an Lonauer verstanden werden“. Czermak folge „ganz stark unbewusst dem Sprichwort: ‚Wie man in den Wald hineinruft, so hallt es wider.'“ Er habe sich zu derartigen schriftlichen Äußerungen hinreißen lassen, weil er leicht beeinflussbar und außerordentlich anpassungsfähig war, ohne eine klare eigenständige Position vertreten zu können.

In der Hauptverhandlung ging Dr. Kofler sogar einen Schritt weiter, als er meinte, dass Czermaks Briefe an Lonauer im Widerspruch zu dessen Charakter stünden und nicht seinem Wesen entsprächen. Seiner Meinung nach waren die Briefe wahrscheinlich unter „einer gewissen affektiven Störung geschrieben worden“. Der hohe Blutdruck, unter dem Czermak litt, bewirke Zirkulationsstörungen im Gehirn, welche sich dann seelisch auswirken könnten. Wegen seiner NS-Gläubigkeit besitze Czermak „eine verminderte Urteilsfähigkeit“. Dr. Harrer behauptete nicht nur, dass sich Czermak einfach dem „Ton“ Lonauers angepasst habe, sondern sogar: „Er hat nicht schadensabsichtliches Bewusstsein bei der Abfassung dieses Briefes gehabt.“

In ihrem Gutachten waren die beiden Ärzte bemüht, die Verantwortlichkeit Czermaks herabzusetzen, indem sie auf die Beeinträchtigung seines Gemüts- und Gesundheitszustandes hinwiesen. So sei er wegen „nervöser Überreizbarkeit“ schon in der Volksschule in nervenärztlicher Behandlung gestanden und habe im Gymnasium als „Schussler“ und fahriger Mensch gegolten. Wegen seiner leicht erregbaren Phantasie hätte ihn die Mutter von Kästen holen müssen, die er im Traum bestieg. Dass Czermak leicht zu beeindrucken und stimmungsmäßig von Äußerlichkeiten abhängig war, hätte sich auch darin gezeigt, dass bei Gewitter Erregungszustände bis hin zur Tränenwallung möglich waren. Darüber hinaus hätte ihn zuweilen auch flotte Marschmusik zu Tränen gerührt. Bei ihrer Untersuchung habe sich herausgestellt, dass Czermak an Bluthochdruck mit Herzdurchblutungsstörungen leide und Vorzeichen eines bevorstehenden Zusammenbruchs wahrzunehmen seien. Sein „Alt-Gedächtnis“ und seine Merkfähigkeit wären „erheblich herabgesetzt.“

Zusammenfassend stellten Dr. Kofler und Dr. Harrer in ihrem Gutachten fest, dass Czermak „in keiner Weise“ den Anforderungen seiner Dienststellung gewachsen war. Dies sowie das Fehlen einer starken Persönlichkeit hätten dazu geführt, dass Czermak nicht in der Lage gewesen sei, im Zuge der NS-Euthanasie den rein ärztlichen Standpunktes gegenüber anderen Auffassungen durchzusetzen. Er müsse „in gewissen Grenzen fast als haltlos und gutmütig-weich“ bezeichnet werden. Die Gutachter stellten eine „gewisse geistig-seelische Schwäche“ fest, die im Politischen zu einer „Urteilsschwäche“ geführt habe, die seine Handlungen, um die es im Prozess ging, „mindestens sehr gefördert, wenn nicht verursacht“ hätten.

In der Hauptverhandlung präzisierte Dr. Harrer, Czermak leide „zweifellos an einer allgemeinen Hirnleistungsschwäche“, aber „im Grossen“ sei er „wohl leistungsfähig“. Auf die Frage, ob ein gutmütig geborener Mensch sieben Jahre lang brutal sein kann, antwortete er: „Wenn er unter besonderer Zwangswirkung schwerer äusserer Verhältnisse steht. Blutdruckerhöhung und Halsmarkerschütterungen können eine Charakterveränderung herbeiführen.“

Urteil und Haftentlassung

Czermak wurde für schuldig befunden, auf eine entferntere Art zum Massenmord an geisteskranken Heil- und Fürsorgepfleglingen beigetragen zu haben, indem er „die Sammlung der Kranken und gebrechlichen Leuten aus den Anstalten, Armen- und Versorgungshäusern und die Überstellung von 707 Personen nach Hartheim zum Zwecke ihrer Vergasung wiederholt ausdrücklich forderte, unterstütze und betrieb“. Ein besonderer Belastungspunkt beim Urteil stellte Czermaks unterstützende Rolle beim Abtransport von PatientInnen aus den kleineren Anstalten, Armen- und Versorgungshäusern dar. Zudem vertrat das Gericht den Standpunkt, dass die NS-Euthanasieaktion im Gau Tirol-Vorarlberg hätte gestoppt werden können, wenn Czermaks Haltung eine andere gewesen wäre. Das Urteil vom 1. Dezember 1949 umfasste eine achtjährige schwere Kerkerstrafe bei gleichzeitigem Vermögensverfall. Am 23. Jänner 1950 wurde Czermak nach Oberösterreich in die Männerhaftanstalt Garsten transferiert.

Am 4. März 1950 stellte Czermaks Frau ein Gnadengesuch an den Bundespräsidenten wegen des schlechten Gesundheitszustandes ihres Mannes (Angina pectoris, Bluthochdruck, fortgeschrittene Arterienverkalkung, schwere nervöse und seelische Störungen), der finanziellen Not der Familie und der Hoffnung der inzwischen 90jährigen Mutter Czermaks, den Sohn noch vor ihrem Tod wieder zu sehen. Die Mitschuld Czermaks an der NS-Euthanasie wäre „eine sehr entfernte“ gewesen, ihr Gatte habe „unter dem Zwang der damaligen Verhältnisse“ gestanden. Da nur der Vorsitzende des Innsbrucker Volksgerichts und ein Schöffe das Gesuch befürworteten, wurde es abgelehnt.

Am 21. Juni 1950 stimmte das Gericht aber einem neuerlich gestellten Gnadengesuch zu, nachdem die Staatsanwaltschaft (Ernst Grünewald) eine positive Haltung eingenommen hatte. Begründet wurde dieses Vorgehen mit der Rücksichtnahme auf die hoch betagte Mutter, Czermaks Gesundheitszustand und die Stellungnahme der Tiroler Sicherheitsdirektion. Laut Bundespolizei würde Czermak nach ihren Erhebungen gut geschrieben, dass er durch seine Vorsprache beim Gauleiter die NS-Euthanasie wesentlich abgeschwächt hätte, sich nicht gehässig verhalten habe und sein Gnadengesuch durch die Innsbrucker Ärzteschaft allgemein befürwortet wurde. Dieses Mal scheiterte die Freilassung Czermaks an der Ablehnung des Innenministeriums.

Am 9. September 1950 wurde Czermaks Hartnäckigkeit belohnt. Wegen guter Führung erfolgte seine bedingte Entlassung aus der Männerhaftanstalt Garsten. Drei Jahre später galt seine Haftstrafe endgültig als verbüßt. In der Folge arbeitete er bei Pharmafirmen in Kärnten, Wien und Vorarlberg. Ende Dezember 1953 stellte Czermak einen Antrag auf Tilgung der Rechtsfolgen seiner Verurteilung. Er wollte den ihm aberkannten akademischen Titel wiedererlangen und erneut als Arzt praktizieren. Die Tiroler Ärztekammer befürwortete Czermaks Gnadengesuch, das Professorenkollegium der medizinischen Fakultät der Universität unterstützte es sogar einstimmig. Das Innsbrucker Volksgericht konnte sich aber nicht mehr vorstellen, dass Hans Czermak noch einmal als Arzt tätig wurde. Nach dieser Ablehnung blieb Czermak nichts anderes übrig, als weiter als Angestellter bei der Firma Opanchemie Wolfsberg zu arbeiten.

Am 30. April 1975 starb Hans Czermak im Alter von 83 Jahren. „Nach einem arbeitsreichen, pflichterfüllten Leben“, wie es in der Todesanzeige hieß.