Gewerkschaft im Wandel zwischen Anpassung und Widerstand

Aus: Horst Schreiber/Rainer Hofmann: 60 Jahre ÖGB Tirol, 2004. Dort auch mit Fußnoten
Horst Schreiber

„Gesellschaftliche Institutionen und Funktionsweisen nicht als gegeben zu akzeptieren, sondern sie – ausgehend von den Lebensansprüchen der Mehrheit der Bevölkerung – neu zu konzipieren und zu verändern, ist ohne Zweifel ein emanzipativer Prozess.“

Veränderungen im Zuge der neoliberalen Offensive

Nach den Erfahrungen mit dem Desaster einer liberalen Wirtschaftspolitik, die das kapitalistische Gesellschaftssystem und die bürgerlichen Demokratien an den Rand des Zusammenbruchs und in Folge durch das Erstarken faschistischer Bewegungen in den Zweiten Weltkrieg geführt hatte, waren sich linke und rechte PolitikerInnen der westlichen Welt nach 1945 darüber einig, den freien Markt zu regulieren, umfassende Sozialreformen einzuführen und dem Staat dabei eine bedeutende Rolle zuzumessen. Die Systemkonkurrenz zur Sowjetunion bot Notwendigkeit und Anreiz, sich um den Aufbau eines Wohlfahrtsstaates zu bemühen. Als öffentliche Aufgaben von größter Bedeutung wurden daher Vollbeschäftigung, aktive Bekämpfung von Armut und Obdachlosigkeit, soziale Sicherheit, Einkommensgerechtigkeit, Chancengleichheit bei Erziehung, Bildung, Gesundheit und Kultur angesehen. Der Aufbau und die Identitätsstiftung der „sozialen Marktwirtschaft“ war zudem auch deshalb möglich, weil sie zentrale Momente der beiden wichtigsten politischen Lager enthielt, des Reformismus der Sozialdemokratie und der Soziallehre der katholischen Kirche, die von den Volksparteien vertreten wurden. Feste Wechselkurse, stabile Rohstoffpreise, niedrige Zinssätze und eine antizyklische Steuer- und Geldpolitik durch einen aktiven Staat sorgten dafür, dass Unternehmen langfristig orientierte Investitionen auf den Gütermärkten tätigten, während kurzfristige Spekulationen auf den Finanzmärkten unattraktiv blieben. Im Vergleich zur Zeit vor und nach dem Ersten Weltkrieg war diese Politik derart erfolgreich, dass die Zeit ab Ende der 1950er Jahre als „Goldenes Zeitalter“ bezeichnet wird.

Doch die wirtschaftlichen Krisensymptome nach 1973 im Zuge einer zunehmend universal operierenden Weltwirtschaft, die über Staatsgrenzen hinweg funktionierte, den Handlungsspielraum nationaler Politik einengte und die bisherigen Grundlagen staatlicher Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik aushöhlte, führten dazu, dass dieser Konsens verlassen und Radikallösungen gesucht wurden, die in eine Renaissance liberaler Wirtschaftspolitik unter Ronald Reagan in den USA und Margret Thatcher in Großbritannien mündeten. Die UnternehmerInnen, deren Gewinnspannen sich verringerten, waren nicht länger bereit, den Kompromiss zwischen Arbeit und Kapital aufrecht zu erhalten und die Kosten für den Wohlfahrtsstaat, den die Gewerkschaften erkämpft hatten, mitzutragen. Der gescheiterte Wirtschaftsliberalismus der Vorkriegszeit kehrte in Form der monetaristischen Lehre mit den Prinzipien des freien Marktes und dem Vorrang der Inflationsbekämpfung wieder. Die Privatisierung von sozialen Diensten und staatlichen Betrieben wurde ebenso in Angriff genommen, wie die Rücknahme von Regulierungsmechanismen der Finanzmärkte, deren Liberalisierung die Kapitalströme der Kontrolle eines bestimmten Staates immer mehr entzogen. Abkehr von der Vollbeschäftigungspolitik, Generalangriff auf den Sozialstaat, Abbau staatlicher Funktionen („schlanker Staat“) sowie Vorrang der Geldwertstabilität und staatlicher Haushaltsdisziplin charakterisieren den wirtschaftspolitischen Kurswechsel, der v.a. dem Finanzkapital zugute kommt.

In Österreich konnte die Arbeitslosenrate deutlich geringer gehalten werden als in den meisten anderen europäischen Ländern. Hauptursachen dafür waren eine überwiegend durch Auslandskredite finanzierte keynesianische Wirtschaftspolitik („Deficit-Spending“), die zurückhaltende Lohnpolitik der Gewerkschaften und eine ex­pansive Geld- und Steuerpoli­tik. Der monetaristischen Wirtschaftslehre wurde also längere Zeit Widerstand entgegengesetzt. Doch Ende der 1970er Jahre stieß die österreichische Regierung unter Bruno Kreisky erstmals an die Grenzen des nationalen Handlungsspielraumes. Den privaten Konsum und Investitionen durch eine „Politik des billigen Geldes“ zu stimulieren scheiterten. Nach der Freigabe der festen Wechselkurse 1973 war ein nationaler Alleingang in der Geldpolitik nicht mehr möglich. Die Bindung des Schilling an die Deutsche Mark, Kapitalabflüsse ins Ausland, die Zunahme internationaler Währungsspekulationen, das Entstehen so genannter Steueroasen (Luxemburg, Bahamas, Singapur) und generell die Verselbstständigung der internationalen Kreditmärkte waren Ausdruck für den Verlust der politischen Kontrolle über die Weltwährungs- und Wirtschaftsbeziehungen. Dem internationalen Finanzkapital war es so möglich, nationalstaatliche Politik und deren traditionelle Instrumente zur Herstellung von Vollbeschäftigung zu konterkarieren. Beschäftigungspolitische Maßnahmen mussten nun ausschließlich über die Steuerpolitik in Angriff genommen werden. Vermindertes Wirtschaftswachstum und hohe Zinsen ließen aber die Staatsschulden rascher steigen als die Gesamtproduktion. Diese Entwicklung blockierte die keynesianische Koordination der Wirtschaftspolitik und läutete die wirtschaftspolitische Wende der 1980er Jahre ein. Bereits 1986 wurde Vollbeschäftigung als wesentliches Ziel staatlicher Wirtschaftspolitik in Österreich aufgegeben. Stephan Schulmeister fasst die von den neoliberalen Konzepten ausgelösten Veränderungen der makroökonomischen Rahmenbedingungen seit den 1970er Jahren, die heute den Rückbau des Sozialstaates, längere Arbeitszeiten und Lohnkürzungen im Sinne der Sicherung der Wirtschaftsstandorte als unumgängliche Naturgesetze erscheinen lassen, wie folgt zusammen:

„Die Aufgabe fester Wechselkurse führte zu enormer Instabilität der Währungen, insbesondere des Dollars, seine Entwertung 1971/73 und 1977/79 trug wesentlich zu den beiden ‚Ölpreisschocks‘ 1973 sowie 1979 und den nachfolgenden Rezessionen bei. Der Wechsel der wichtigsten Notenbanken zu einer monetaristischen Hochzinspolitik 1979/80 führte dazu, dass der Zinssatz seither permanent über der Wachstumsrate liegt, was die reale Investitionsdynamik nachhaltig dämpfte. Schließlich schufen Finanzinnovationen, insbesondere die Derivate, immer mehr Möglichkeiten für kurzfristige Spekulation.

Alle diese Entwicklungen lenkten den ‚Vermehrungsdrang‘ des Kapitals von realwirtschaftlichen Aktivitäten zu Finanzveranlagung und -spekulation, denn einerseits machten die Schwankungen von Wechselkursen und Rohstoffpreisen sowie das hohe Zinsniveau realwirtschaftliche Aktivitäten unsicherer und teurer, andererseits erhöhten genau diese Entwicklungen die Chancen von Spekulation und Veranlagung auf den Finanzmärkten. Dieser Systemwechsel vom Realkapitalismus zum Finanzkapitalismus ist die wichtigste Ursache für die nachhaltige Dämpfung des Wirtschaftswachstums seit Anfang der Siebzigerjahre. Der daraus resultierende Anstieg von Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung ließ wiederum den Abbau des Sozialstaates und damit die Aufgabe der sozialen Marktwirtschaft als ‚Sachzwang‘ erscheinen. Die Beschädigung des europäischen Modells durch die Offensive des Neoliberalismus – die ‚Theorie der reichen Leute‘ – ist deshalb nicht auf eine wachsende Popularität seiner Forderungen zurückzuführen, sondern erfolgte durch die Hintertür einer Entfesselung der Finanzmärkte: Auf diese Weise wurden Bedingungen geschaffen, die einen Sozialabbau als unvermeidlich erscheinen lassen.“

Vor allem in Großbritannien und den USA wurden die Gewerkschaften, die sich dieser Entwicklung entgegenzustemmen suchten, mit aller Härte bekämpft und ihr Einfluss gebrochen. Der Wohlfahrtsstaat wurde in Richtung Wettbewerbsstaat entwickelt, der eine Spaltung der Gesellschaft heraufbeschwor. Sicherheiten wurden immer mehr abgebaut und das Leistungsniveau aller Versicherungszweige gesenkt, während Besserverdienende in Privatversicherungen abzuwandern begannen. In einem nicht mehr für möglich gehaltenen Ausmaß kehrten daher in den 1980er und 1990er Jahren die als längst besiegt geglaubten Probleme der Zwischenkriegszeit in Form von Massenarbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit und Armut bei gleichzeitig luxuriösem Überfluss in die Industriestaaten zurück. Für den größten Teil der Menschheit bedeutet die Konsequenz dieses Wechsels in der Wirtschaftspolitik Hunger, Elend, Krankheit und frühen Tod.

Bereits am 10. Bundeskongress des ÖGB 1983 spiegelte sich die veränderte Wirtschaftslage in einer in die Defensive geratenen Gewerkschaft wider. ÖGB-Präsident Anton Benya nahm die Bundesregierung in die Verantwortung und sprach sich für ein „bedingungsloses Eintreten für eine beschäftigungssichernde Wirtschaftspolitik“ aus: „Diese Haltung ist auch geprägt von der historischen Erfahrung, daß Massenarbeitslosigkeit tief gespalten und politischen Extremismus gefördert hat.“ Mit Verweis auf eine erfolgreiche Gewerkschaftspolitik unterstrich er, dass die Arbeitslosigkeit in Österreich weniger als die Hälfte des europäischen Durchschnitts ausmachte. Allerdings zielte selbst der ÖGB nur mehr auf „die Sicherung eines möglichst hohen Beschäftigungsniveaus“ ab. Die Losungen hießen: Konsolidierung des Budgets für eine aktive Beschäftigungspolitik, „Mut zur Erneuerung“, um den „schmerzhaften Prozess der Anpassung an geänderte weltwirtschaftliche Rahmenbedingungen zu meistern“ und gerechte Verteilung der Lasten auf alle gesellschaftlichen Gruppen.

Seit seiner Gründung 1945 nimmt der ÖGB eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung wahr und verzichtet unter Rücksichtnahme auf „Wirtschaftsnotwendigkeiten“ darauf, das Maximum konjunktureller Spielräume für seine Mitglieder herauszuholen. Verzicht bzw. Unterdrückung von Streiks und zurückhaltende Lohnforderungen sind nur zwei Charakteristika einer Gewerkschaftspolitik, welche die Steigerung und Verbesserung der Produktion als Voraussetzung für weitere Erhöhungen des Lebensstandards ansah. Insgesamt war der ÖGB aber trotz des Umstandes, dass in Österreich die größten Lohnunterschiede in Westeuropa zu verzeichnen sind, angesichts vergleichsweise hohen Lebensniveaus und niedriger Arbeitslosigkeit bei gleichzeitigem Aufbau eines Sozialstaates über weite Strecken sehr erfolgreich. Voraussetzung dafür war eine Zentralisierung der Entscheidungen in einer hierarchisch aufgebauten Organisationsstruktur, um Vereinbarungen auch tatsächlich in die Tat umsetzen zu können, sowie ein institutionalisierter Einfluss des ÖGB auf die Wirtschafts- und Sozialpolitik durch seine Verankerung in den Parteien und im Rahmen der Sozialpartnerschaft durch die Einbindung in den gesamten politischen Gestaltungsprozess. Dem ÖGB gelang es durch seine Politik der Rücksichtnahme auf die Gesamtwirtschaft und seine starke Position aufgrund der Schwäche des österreichischen Privatkapitals nach 1945, eine dauerhafte Zusammenarbeit mit der ArbeitgeberInnenseite zu etablieren und in die Konzeption der Wirtschafts- und Sozialpolitik eingebunden zu werden.

Doch seit Mitte der 1980er Jahre und verstärkt seit den 1990er Jahren trieben neoliberale Wirtschaftspolitik im Zeitalter des technologischen Fortschrittes und der Globalisierung mit der Deregulierung und Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse die Sozialpartnerschaft in eine Krise. Zum einen wollte wie erwähnt die UnternehmerInnenschaft sinkende Profitraten bei verlangsamtem Wirtschaftswachstum und höheren Arbeitskosten unter Einschluss der Ausgaben für den Sozialstaat nicht länger hinnehmen, andererseits ermöglichten technologische Errungenschaften der Mikroelektronik gewaltige Produktivitätssteigerungen, Rationalisierungen und neue flexible und spezialisierte Produktionsweisen, welche die industriellen Arbeitsbeziehungen nachhaltig veränderten. Das Kapital, losgelöst von staatlichen Regulierungen, wurde mobil und pochte auf Standortsicherung (z.B. niedrigere Unternehmenssteuern, flexible Arbeitszeiten, Senkung der Lohnnebenkosten, geringere Löhne) mit der Drohung der Betriebsverlagerung. Gleichzeitig änderte sich das Investitionsverhalten der UnternehmerInnen, die ihr Kapital immer stärker nicht in die reale Produktion, sondern spekulativ auf den Finanzmärkten einsetzten (Aktionärskapitalismus, sharholder-value). Dieser Übergang von der in die Krise geratenen fordistischen Produktion zur postfordistischen geht Hand in Hand mit der Entwicklung vom keynesianischen Wohlfahrtsstaat zum neoliberalen Wettbewerbsregime. Budgetdisziplin sorgt für eine Sparpolitik zu Lasten der Absicherung der ArbeitnehmerInnen und der Bevölkerung insgesamt und verschafft den UnternehmerInnen Kostenvorteile (Senkung der Körperschaftssteuer, Verzicht auf Vermögenssteuern, Verlustabschreibungen für Großkonzerne etc.). Durch diese Form der Sicherung der Wirtschaftsstandorte und ihrer Wettbewerbsfähigkeit werden die Steuereinnahmen gedämpft und der Sozialstaat wegen behaupteter Unfinanzierbarkeit zerschlagen.

Massenarbeitslosigkeit – rund 20 Millionen EU-weit, die Dunkelziffer ist noch weit höher – wird nicht als Folge dieser Entwicklungen gesehen. Das neoliberale Rezept zur Verminderung der Arbeitslosigkeit ist die Absenkung des Arbeitslosengeldes und die Schaffung eines Niedriglohnsektors wie in den USA. Diese Wege werden sowohl von konservativ-neoliberalen, rechtspopulistischen als auch rot-grünen Regierungen beschritten. Während etwa große Unternehmen kaum mehr Gewinnsteuern zahlen, ist die Besteuerung von Vermögen oder die Einführung einer Wertschöpfungsabgabe kein Thema. Dabei kennt der Klassenkampf von oben immer weniger Grenzen. Kaum haben die Regierungen und Gewerkschaften eine unternehmensfördernde Maßnahme beschlossen und ein weitreichendes Zugeständnis gemacht, wird bereits die nächste Forderung erhoben. Nicht die seit 25 Jahren vom ÖGB eingemahnte 35-Stundenwoche, die Verlängerung selbstbestimmter Lebenszeit und die gerechtere Verteilung der verfügbaren Erwerbsarbeit auf mehr Menschen, sondern Arbeitszeitverlängerung ohne Lohnausgleich, noch flexiblere Jahresarbeitszeitmodelle, Streichung von Feiertagen und Urlaub oder die Erhöhung des Pensionseintrittsalter sind die Themen der Stunde. Die in Frankreich und anderen Ländern eingeführte 35-Stundenwoche ist dem EU-Wettbewerbskommissar Mario Monti ein Dorn im Auge. Für ihn ist sie „ein zu beseitigender Zwang“. Er ist überzeugt, „dass man gewisse Zwänge beseitigen muss, dass die Arbeitszeit eine individuelle Wahl sein muss.“ Die EU-Kommission will generell die derzeit als EU-Norm geltende wöchentliche Höchstarbeitszeit von 48 Stunden (sic!) erhöhen und die Durchrechnungszeiträume über das bisher geltende eine Jahr ausdehnen. Dieser Versuch der Aushebelung der EU-Arbeitszeitrichtlinie zeigt die Richtung der Politik der EU-Kommission, von UnternehmerInnenverbände und Regierungen jeglicher Couleur an: Vollständig flexible und weitgehend prekäre Arbeitsverhältnisse stellen das Leitbild dar. Dabei zeigt eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der deutschen Bundesagentur für Arbeit, dass aufgrund fehlender Nachfrage und zu geringen Wirtschaftswachstums längere Arbeitszeiten entgegen allen Behauptungen dem Arbeitsmarkt nicht helfen, sondern zu weniger Neueinstellungen und eher sogar zu Stellenabbau führen. Sogar der Chef von Siemens Österreich, Albert Hochleitner, unterstreicht, dass für eine Verlängerung der Arbeitszeit „schlicht nicht genug Arbeit da“ ist:

„‚Dass die Arbeitslosenstatistiken mit ihren vier oder fünf Prozent Arbeitslosigkeit geschönt sind‘, sei allgemein bekannt, glaubt der Siemens-Chef. Tatsächlich sei die Zahl der Arbeitslosen auch in Österreich höher. ‚In einer solchen Situation die Regelarbeitszeit zu verlängern hätte zwangsläufig zur Folge, dass man sehenden auges in eine höhere Arbeitslosigkeit steuert‘, so Hochleitner. Stattdessen plädiert der Siemens-Chef ebenso wie Wirtschaftskammerpräsident Christoph Leitl für eine stärkere Flexibilisierung der Arbeitszeit.“

Generell gereicht die euphemistische Sprache der UnternehmerInnen und ihrer Interessenvertretungen den Lohnabhängigen in diesem Zusammenhang geradezu zum Hohn. Der Tiroler Wirtschaftskammerchef Jürgen Bodenseer wünscht sich eine „freiere Gestaltung der Jahresarbeitszeit“. Die völlige Anpassung der Arbeitszeit der ArbeitnehmerInnen an die Bedürfnisse der Unternehmen, also an ihre Auftrags- und Konjunkturschwankungen, unter Wegfall der Überstundenbezahlung begründet er so: „Damit die Leute dann arbeiten können, wenn es nötig ist.“ Michael Schwarzkopf, Vorstandsvorsitzender der Plansee Werke in Reutte, stößt ins gleiche Horn der größeren Flexibilisierung der Arbeitszeit: „Aber wir müssen uns daran gewöhnen, mehr zu arbeiten ohne gleich einen Euro mehr zu bekommen.“ Der Tiroler Präsident der Industriellenvereinigung Oswald Mayr predigt, dass Mehrarbeit Jobs und Unternehmen sichern, und sieht in der lustvollen Selbstausbeutung eine adäquate Motivation, um länger und flexibler zu arbeiten: „Ich glaube, dass man in guten Betrieben gerne Engagement zeigt, weil man an der Arbeit Freude hat“. Zentraler Punkt seiner Vorstellungen ist dem gemäß die Ausweitung der täglichen Höchstarbeitszeit von derzeit 10 Stunden.

Wenn er Gewinnbeteiligungs-Modelle und Erfolgsprämien in Aussicht stellt, so bedeutet dies nichts Anderes als ein weiteres Kostensenkungsprogramm, indem ArbeitnehmerInnenrechte wie fixe Gehaltsbestandteile, geregelte Überstundenzuschläge u.ä. in Leistungsprämien umgewandelt werden, die das Unternehmen nach Gutdünken ausschütten kann – oder eben auch nicht. Zudem stärkt dies den Wettbewerb im Betrieb und schwächt die Solidarität der Arbeitskräfte. Darüber hinaus wird dadurch die Identifikation der ArbeitnehmerInnen mit dem Betrieb gefördert, indem sich diese die Standortlogik zu eigen machen und die Konkurrenz mit anderen Betrieben und deren ArbeitnehmerInnen verinnerlichen. Ein gemeinsamer Kampf für mehr Rechte aller wird dadurch enorm erschwert. Allerdings ist die Zerschlagung der Solidarität auch eines der Hauptanliegen des neoliberalen Projekts.

Dass die UnternehmerInnen die Einigung auf Sparpakete bei DaimlerChrysler (BRD) und den Siemens-Werken in Kampf-Lintfort und Bocholt im Sommer 2004 zur Verringerung der Arbeitskosten (Verlängerung der Wochenarbeitszeit von 35 auf 40 Stunden ohne Lohnausgleich und Umwandlung des Urlaubs- und Weihnachtsgeldes in ertragsabhängige Jahressonderzahlungen) zu einer Offensive gegen hart erkämpfte Rechte der ArbeitnehmerInnen nutzen, ist wenig verwunderlich. Hierbei geht es nicht nur darum, durch Erpressung unter Androhung der Abwanderung in Billiglohnregionen längere und flexiblere Arbeitszeiten zu erzwingen. Die Gunst der Stunde soll genutzt werden, um die Gestaltungsmacht der Gewerkschaft weitgehend zurückzudrängen. Während die rot-grüne Regierung in der BRD flexible Lösungen in den Betrieben von Fall zu Fall ermöglichen will, denkt die CDU/CSU an eine gesetzliche Verankerung betrieblicher Bündnisse nach ihrem erwarteten Wahlsieg 2006. CSU-Chef Edmund Stoiber verlangt, dass Firmen generell auch ohne Zustimmungen von Gewerkschaften längere Arbeitszeiten einführen können sollen. In diese Richtung zielte bereits das erste Regierungsübereinkommen zwischen ÖVP und FPÖ im Februar 2000. Norbert Zimmermann, Chef der Berndorf AG mit 1.700 MitarbeiterInnen in 14 Ländern, sieht als Vision bereits eine Modernisierung der Sozialpartnerschaft in Österreich mit dem Endergebnis der Schaffung betriebseigener Gewerkschaften:

„Die Unternehmer schließen mit ihren Betriebsräten im Konsensweg individuelle, maßgeschneiderte und von der Gewerkschaft nur normierte Betriebsvereinbarungen.

Die Gewerkschaft schafft gemeinsam mit dem Gesetzgeber die Dachregelungen, die strenger sind als die Betriebsvereinbarungen. (…) die Gewerkschaft wäre Ombudsstelle. Verstößt der Arbeitgeber gegen die Betriebsvereinbarung, sorgt sie dafür, dass sofort die strengere Dachregelung in Kraft tritt. Das wäre doch eine Traumrolle für die Gewerkschaft, etwas anderes als streiken gehen.“

Dabei leiden Konzerne wie etwa die oben genannten Unternehmen DaimlerChrysler oder Siemens nicht unter Ertragsschwäche. DaimlerChrysler steigerte im ersten Halbjahr 2004 den operativen Gewinn um 77% auf 3,6 Milliarden Euro. Ein noch besseres Ergebnis verhinderte nur die falsche Einschätzung des Managements, das durch die verlustreiche Fusion mit Mitsubishi Motors eine halbe Milliarde in den Sand setzte. Im Sinne der Orientierung an den sharholder-value müssen bei Siemens Vorgaben von 15% Rendite erzielt werden, ansonsten stehen Standortverlagerung, Outsourcing oder eben unbezahlte Mehrarbeit an der Tagesordnung. Mit Wettbewerbsschwäche, wie in der Öffentlichkeit argumentiert wird, hat dies alles nichts zu tun. Während früher zur Maßnahme der unbezahlten Mehrarbeit gegriffen wurde, wenn sich ein Unternehmen in einer schweren Krise befand, geht es heute darum, die Unternehmensgewinne zu erhöhen.

In diesem Zusammenhang ist es aufschlussreich, auf bisherige Folgen neoliberalerer Politik kurz zu verwiesen. Die Arbeitslosenrate in Tirol lag 2003 unter Einschluss der in Schulung Befindlichen bei 5,8%, unter Einrechnung der „verdeckten Arbeitslosigkeit“ betrug sie aber bis zu 10%, während die Sockelarbeitslosigkeit auf das rund Fünffache gestiegen ist. Besonders betroffen sind Junge von 19 bis 25 Jahren. 2003 waren in Tirol 17.000 Menschen (österreichweit knapp 282.000) im Monatsdurchschnitt arbeitslos bei gleichzeitig hoher Zunahme der Privatkonkurse. In Österreich hat die Zahl der Arbeitslosen seit Anfang 2001 um 60.000 zugenommen. Dies dämpft nicht nur die Nachfrage und schwächt das Wirtschaftswachstum, allein die sich daraus ergebenden direkten Budgetkosten (mehr Arbeitslosengeld, weniger Steuereinnahmen) ohne Miteinbeziehung des Entfalls an Konsumausgaben belaufen sich 2004 auf rund eine Milliarde Euro. Diese Summe macht ca. ein Drittel des Budgetdefizits aus. Auch wenn sich schon allein aufgrund dieser Zahlen die Irrationalität neoliberaler Wirtschaftspolitik ablesen lässt, so folgert die Bundesregierung daraus kein Überdenken ihrer bisherigen Vorgangsweise, sondern überlegt weitere Kürzungen von Arbeitslosenunterstützung, Kostenverlagerung im Gesundheitswesen auf die Bevölkerung, Pensionskürzungen, Lockerung des Kündigungsschutzes usw.

Auch im Bereich der Einkommen lässt sich die Umverteilung von unten nach oben unter Beweis stellen. Der Anteil der ArbeitnehmerInnen am Volkseinkommen (Lohnquote) ist in den letzten beiden Jahrzehnten deutlich gesunken. Die bereinigte Lohnquote ging von 1982 bis 2000 um 8% zurück. Darin spiegelt sich die steuerliche Entlastung der Unternehmen wider, die zu einer größeren Investitionstätigkeit führen soll. Gleichzeitig bedeutet diese Entwicklung weiters eine soziale Umverteilung zu Lasten der ArbeitnehmerInnen. Ein immer kleiner werdender Teil der Gesamteinkommen in Österreich kommt den unselbstständig Beschäftigten zugute, ein immer größer werdender Teil den Gewinnen und Erlösen selbstständiger UnternehmerInnen und des „Kapitals“. Diese Entwicklung ist ein EU-weiter Trend. Der Hauptgrund für die sinkenden Lohnquoten liegt in der Schwächung der Verhandlungsposition der Gewerkschaft aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit. Arbeitslosigkeit, so Markus Marterbauer und Ewald Walterskirchen vom Wirtschaftsforschungsinstitut, „ist aber nicht nur das Resultat der Wirtschaftsentwicklung, sondern auch ein Instrument der Unternehmenspolitik. Durch steigende bzw. hohe Arbeitslosigkeit lässt sich die Einkommensverteilung zugunsten der Unternehmen verschieben.“ Die Behauptung der neoliberalen Lehre und Politik, dass steuerliche Entlastung der Unternehmen und eine Lohnpolitik, welche die Reallohnsteigerungen hinter jene der Produktivität zurückfallen lässt, das Wirtschaftswachstum ankurbeln und die Arbeitslosigkeit senken, ist jedenfalls nicht eingetreten. Ganz im Gegenteil. Doch nach Friedrich von Hayek, einem der gefeierten Theoretiker des Neoliberalismus, ist Arbeitslosigkeit wünschenswert für den „Aussiebungsprozess“, die natürliche Selektion durch den Markt.

Bestand früher das Credo der Wirtschafts- und Sozialpolitik darin, für eine stabile Lohnquote zu sorgen, um die Nachfrage zu festigen, so steht in Europa seit den 1980er Jahren die Senkung der Lohnstückkosten zur Verbesserung der nationalen Wettbewerbsfähigkeit im Vordergrund. Damit haben Standortpolitik und eine Zurückdrängung der Verteilungsfrage durch die hohe Arbeitslosigkeit wesentlich an Bedeutung gewonnen. Die Verschiebung der Einkommensverteilung zugunsten von Unternehmen und Kapital hat zwar die Lohnstückkosten in Österreich wie erwünscht erheblich gesenkt (1980-2000 um 15%), und zwar noch deutlicher als im EU-Durchschnitt. Laut einer Untersuchung des Instituts für Höhere Studien liegen die Lohnstückkosten mittlerweile sogar unter dem Niveau von Polen und Ungarn. Da aber alle Länder diese Strategie verfolgten, ergaben sich daraus nur geringe Wettbewerbsvorteile. Dies gelang nur jenen wenigen Ländern, die noch mehr Lohnzurückhaltung als der internationale Durchschnitt übten. Österreich konnte jedenfalls seine Wettbewerbsfähigkeit nicht zuletzt dank stetig steigender Produktivität seiner ArbeitnehmerInnen ständig verbessern. Die Folgen bestanden hauptsächlich in einer geringeren Nachfrage und einer Dämpfung der Investitionstätigkeit.

Im Bericht zur „Lage der Arbeitnehmer in Tirol 2004″ stellt die Arbeiterkammer fest:

„Von 1990 bis 2002 sind die realen Brutto-Pro-Kopf-Einkommen um 12,3 Prozent gestiegen, die gesamtwirtschaftliche Produktivität jedoch um 23,9 Prozent. (…) Die Arbeitnehmer konnten also nur wenig an der gestiegenen Wirtschaftsleistung teilhaben, der Lohnanteil am Nationaleinkommen ist gesunken. (…) Nimmt man die Verbraucherpreisentwicklung als Maßstab der Inflation, so liegt das preisbereinigte Nettorealeinkommen Pro-Kopf sowohl im Jahr 1995 als auch im Jahr 2002 geringfügig unter dem Niveau des Jahres 1990.“

Die ungerechte Einkommensverteilung spiegelt sich nicht nur im geringen Aufkommen der Vermögens- und der Körperschaftssteuer (zwei Drittel der Unternehmen zahlen überhaupt keine Körperschaftssteuer) wider, sondern generell auch in den Unterschieden bei den Einkommen aus nicht-selbstständiger Arbeit. Während die Einkommen der unteren 30% der ArbeitnehmerInnen zwischen 1995 und 2001 nur um 1% (sic!) wuchsen, bekamen die BezieherInnen der oberen 5% fast ein Viertel mehr. Insgesamt verdienen die 5% SpitzenverdienerInnen in Summe drei Mal so viel wie das untere Einkommensdrittel.

Nicht vergessen werden darf, dass die skizzierten Entwicklungen eine Erosion des Normalarbeitsverhältnisses nach sich gezogen haben. Dies spaltet nicht nur die ArbeitnehmerInnen und erschwert einen Interessenausgleich, sondern hat äußerst negative Folgen für die Mehrheit der Betroffenen. Bereits jedeR vierte Tiroler ArbeitnehmerIn, darunter besonders viele Frauen, arbeitet in atypischen Beschäftigungsverhältnissen. Für viele von ihnen gilt, dass sie keinen Anspruch auf Kranken-, Weihnachts-, Urlaubs- und Arbeitslosengeld, Mutterschutz, Urlaub oder Absicherung bei einem Konkurs des Auftraggebers haben. So verwundert es nicht, wenn die neuen „working und non-working poor“ stark zunehmen. 40.000 bis 50.000 Menschen müssen derzeit in Tirol als zumindest armutsgefährdet eingestuft werden.

Die außenwirtschaftliche Orientierung und Verflechtung Tirols in einem derart hohen Ausmaß ist eine relativ neue Entwicklung. Auch wenn das Land trotz großer Steigerungen bei den Warenexporten noch unter dem österreichischen Durchschnitt liegt, weist es unter Miteinbeziehung der indirekten Exporte durch den AusländerInnenreiseverkehr insgesamt eine Exportquote von 70% auf. Bei den Direktinvestitionen Tiroler Unternehmen im Ausland, also der Möglichkeit der Beschäftigung billigerer Arbeitskräfte verbunden mit geringeren Lohnnebenkosten und generellen Steuervorteilen, ist eine starke Zunahme zu verzeichnen. Umgekehrt gibt es aber auch eine erhebliche Steigerung von Investitionen ausländischer Unternehmen in Tirol, wobei in einigen Fällen die Entwicklungskapazität aus dem Land abgezogen wurde. Was genau unter Tiroler Wirtschaft noch zu verstehen ist, wird immer schwieriger zu definieren. Helmut Kramer, der Chef des Wirtschaftsforschungsinstitutes, stellt jedenfalls fest: „Insgesamt wird man, wie für die gesamte österreichische Wirtschaft, annehmen müssen, dass die Außensteuerung von in Tirol ansässigen Industrieunternehmern wirtschaftlich bedeutender ist als die Einflussnahme von Tiroler Unternehmen auf ausländische Niederlassungen.“

EU-Beitritt und die Bewegungsfreiheit des Kapitals haben die Wirtschafts- und Sozialpolitik des Staates und damit auch die Möglichkeit des ÖGB, die Interessen seiner Mitglieder wahrzunehmen, stark eingeschränkt. Die Maastrichtkriterien 1992 und der Vertrag von Amsterdam 1997 waren Meilensteine dieser Entwicklung hin zu Preisstabilität und Reduktion der Staatsverschuldung (Austeritätspolitik), während das blau-schwarze Wendeprojekt seit 2000 ein verändertes Umfeld für die Gewerkschaften schuf. Das Selbstverständnis der Regierung ist durch eine Kombination neolibe­raler Orientierung und konservativer sozialpolitischer Tradition gekennzeichnet. Dies drückt sich in einer offensiven Politik gegen die Organisationen der Ar­beitnehmerInnenschaft aus. Beispiele dafür sind Bestrebungen zur Verlage­rung der überbetrieblichen hin zur betrieblichen Mitbestimmung insbesondere in Be­zug auf Arbeitszeit, Betriebszeiten und Kollektivvertragsrechten, die Zurückdrängung des Einflusses der Arbeiterkammer sowie die Infragestellung bzw. Umstrukturierung des Hauptverbandes der Sozialversicherungsträger. Das „Innovative“ der Projekte der blau-schwarzen Regierung besteht im Tempo und der Reich­weite der Veränderungen in der Sozialpolitik. Neu ist dabei nicht die neoliberale Orientierung, die bereits seit den 1980er Jahren Eingang in Parteien und Verbände gefunden hat, sondern der Grundkonsens in den programmatischen Vorstellungen, der in der SPÖ-ÖVP-Koalition und in der Sozial­partnerschaft so nicht herstellbar war und der sich an zentrale Aspekte neoliberaler Gesellschafts- und Sozialpolitik wie der Konzentration staatlicher Leistungen auf seine Kernfunktionen orientiert. Die Veränderungen der politischen Kräfteverhältnisse in Regierung und Parlament sowie die zunehmende Demontage der Sozialpartnerschaft erschweren dem ÖGB einen Widerstand mit traditionellen Mitteln.

Bereits in den 1980er Jahren hatten sich die engen Verflechtungen zwischen den Großparteien und Interessenvertretungen angesichts gestiegener Parteienkonkurrenz gelockert. Besonders in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre gingen die Gestaltungsmöglichkeiten der Sozialpartner im Entscheidungsprozess zurück, nicht zuletzt auch aufgrund zunehmender öffentlicher Kritik und des Aufzeigens von Missständen sowie unsachlicher Angriffe durch die FPÖ. Doch erst die ÖVP-FPÖ-Regierung seit 2000 begann die Anerkennung der Sozialpartner als politische Gestaltungsfaktoren prinzipiell in Frage zu stellen und besonders Einrichtungen und Körperschaften der ArbeitnehmerInnen zu schwächen. Dabei gerät der ÖGB stärker ins Hintertreffen als Industriellenvereinigung, Bundeswirtschaftskammer und Landwirtschaftskammer, weil die Maßnahmen der Bundesregierung die Mitglieder des ÖGB weit mehr benachteiligen und die Unternehmer- sowie BauernvertreterInnen den weitaus besseren Zugang zur Regierung haben, deren Politik sie maßgeblich mitbestimmen. Unter Berufung auf die Konkurrenzfähigkeit des „Wirtschaftsstandortes Österreich“ ist die Industriellenvereinigung weniger an einer sozialen Gestaltung als an der Durchsetzung ihrer partikularen Wirtschaftsinteressen gelegen. Deshalb förderte sie auch das Zustandekommen der schwarz-blauen Regierungskoalition, die ihren Interessenvorstellungen entgegenkam. Dass etwa die Industriellenvereinigung dem Finanzminister 283.000 Euro für die Erstellung seiner Homepage zur Verfügung stellt, ohne auf einen Nachweis der Verwendung zu bestehen, um einen eigenen „new economy“ Minister aufzubauen, ist nur ein nebensächliches, wenn auch Aufsehen erregendes Beispiel von Unternehmerlobbying.

Ein kurzer Blick nach Tirol zeigt, dass etwa die Tiroler Wirtschaftskammer wegen ihrer jahrzehntelangen starken Verknüpfung mit der hyperdominanten ÖVP einen starken Machtfaktor darstellt und ihren Einfluss auf das politische System sukzessive ausbauen konnte. Allerdings erfolgte in den letzten Jahren eine Verringerung der personellen und sozialpartnerschaftlichen Verflechtungen und eine Zunahme des externen interessenpolitischen Lobbyings. Dies bewirkte auch der Umstand, dass es seit zwei Jahrzehnten durch die Mehrheit von Arbeiter- und Angestelltenbund der ÖVP und der Fraktion Christlicher Gewerkschafter (AAB/FCG) in der Arbeiterkammer kein einheitliches parteipolitisches Gegengewicht zu den Wirtschaftsverbänden gibt. In der jüngsten Festschrift für die Wirtschaftskammer wird unterstrichen, dass die Führung der Wirtschafts- und Arbeiterkammer durch einen ÖVP-Funktionär „eher zu einer besonders lautstarken Profilierung von Seiten der Arbeiterkammer geführt“ habe:

„Ein Sachverhalt, der damit gleichzeitig zu einer Positionsstärkung der Wirtschaftskammerführung beitrug. Denn die Schaffung dieser Konkurrenzsituation zwischen Wirtschaftskammer und Arbeiterkammer in der politischen Öffentlichkeit trug zweifelsohne dazu bei, verstärkt Zusammenhalt und Loyalität im Lager der Tiroler Unternehmerschaft zu erzeugen. So entstand die paradoxe Situation, dass das lautstarke Auftreten eines Sozialpartners (auch gegenüber der eigenen Partei) die Kohäsion im Inneren sowie die Einflussmöglichkeiten der Tiroler Wirtschaftskammer im politischen System durchaus stärkte.“

Generell ist die Position des ÖGB in Tirol äußerst schwierig, da die ÖVP-nahen Verbände weniger auf sozialpartnerschaftliche Vereinbarungen angewiesen sind und über weit bessere Möglichkeiten der direkten Einflussnahme bei der Landesregierung verfügen. Im Vergleich zu den Interessenvertretungen der Wirtschaft hat der ÖGB Tirol viel geringere personelle und finanzielle Ressourcen und zudem einen sehr niedrigen Organisationsgrad.

Auswirkungen des wirtschaftlichen und politischen Umbruchs auf den ÖGB

Seit langem setzen der Gewerkschaft sinkende Mitgliederzahlen zu. Die Ursachen sind vielfältig und liegen vorwiegend in den wirtschaftlichen und politischen Veränderungen begründet. Durch die Zunahme der Beschäftigten im Dienstleistungsbereich und die drastische Abnahme in der Produktion ging nicht nur der Anteil der IndustriearbeiterInnen zurück, generell entwickelte sich eine Verlagerung von der ArbeiterInnen- zur Angestelltentätigkeit. Mehr als zwei Drittel der nominalen Bruttowertschöpfung Tirols stammen aus dem Dienstleistungssektor, in dem 85% der weiblichen unselbstständig Beschäftigten arbeiten – v.a. in ungeschützten Beschäftigungsverhältnissen, die in Tirol stärker vorgedrungen sind als im österreichischen Durchschnitt. Obwohl oder gerade weil die Produktivität in der Sachgüterproduktion Tirols im österreichweiten Vergleich am höchsten ist, ging die Industriebeschäftigung in den 1990er Jahren um fast 18% zurück.

Die Zunahme der in Klein- und Mittelbetrieben Beschäftigten und die Abnahme der Normalarbeitsverhältnisse bei gleichzeitig hohen Steigerungsraten bei Teilzeitarbeit, geringfügiger Beschäftigung, Leiharbeit und anderen Formen atypischer Beschäftigung erhöhen den Anteil jener ArbeitnehmerInnen, die nur schwer zu organisieren sind. Veränderungen in der Organisationsform der Unternehmen (Outsourcing und Subcontracting) haben diesen Trend verstärkt. Immer mehr Beschäftigte arbeiten in Branchen und Betrieben, in denen die gewerkschaftliche Organisierung und Betreuung schwierig ist und es kaum BetriebsrätInnen gibt. Doch auch in den Konzernen und Großbetrieben ist der Druck auf die Gewerkschaft gewachsen und die gewerkschaftliche Arbeit mühsamer geworden.

Die Problematik der geringen gewerkschaftlichen Durchdringung ist in Tirol besonders stark gegeben, da 57% aller Betriebe höchstens drei MitarbeiterInnen haben, während die Schwierigkeiten der gewerkschaftlichen Organisierung auch in den wenigen Großbetrieben (57) und Mittelbetrieben (446), die zwar nur 2,6% der Unternehmen ausmachen, aber fast 45% der Unselbstständigen in der gewerblichen Wirtschaft beschäftigen, ebenfalls erheblich sind.

Ein zunehmendes Problem für die Mitgliederrekrutierung ist die Herausbildung eines neuen ArbeitnehmerInnentypus durch eine neue Unternehmensorganisation, die, wie bereits erwähnt, zum Entstehen oder zur Auslagerung kleiner Betriebseinheiten führten, in denen gewerkschaftliche Erfassung mühevoller ist. Zum einen erhalten mehr ArbeitnehmerInnen Eigenverantwortlichkeiten in flacheren Hierarchien in Projekt- und Teamarbeit. Diese größere Flexibilität verkürzt Arbeitsabläufe, verbessert die Qualität, führt in der Regel zu Mehrarbeit und gegenseitiger Motivation bzw. Kontrolle, aber auch zu einer stärkeren Identifikation mit dem Unternehmen zu Lasten gewerkschaftlicher Positionen. Der neue ArbeitnehmerInnentyp mit relativ hohen Entscheidungskompetenzen und unternehmerähnlichen Bedingungen in seiner Arbeitssituation orientiert sich an „Sachzwängen“, die über Zielvorgaben des Betriebes und des Marktes an ihn herangetragen werden, während der Interessengegensatz zwischen ArbeitnehmerIn und ArbeitgeberIn in den Hintergrund tritt. ArbeitnehmerInnengruppen, die von dieser Flexibilisierung und autonomeren Zeitgestaltung profitieren, stehen einer größeren Zahl gegenüber, die einer stärkeren sozialen Unsicherheit, hoher Leistungsintensivierung und schlechteren Arbeitsverträgen mit geringeren Weiterbildungs- und Aufstiegschancen ausgesetzt sind. Dies bedeutet, dass die Interessen der ArbeitnehmerInnen in und zwischen den Betrieben uneinheitlicher werden und die Einbindung der BetriebsrätInnen in die Gewerkschaftsarbeit abnimmt. Durch die neuen Freiräume im Zuge partizipativer Managementmethoden werden diese in die Unternehmerlogik zugunsten der Unterschreitung kollektiver Standards für eine Verbesserung des Wettbewerbsvorteils des eigenen Betriebs hineingezogen und kommen in Widerspruch zu den Werten der Gewerkschaft.

Die Aufweichung homogener Klassenlagen und alter Sozialmilieus führen zur Entsolidarisierung, die gezielt durch das Ausspielen der ArbeitnehmerInnengruppen (Kern- und Randbelegschaft, neue ArbeitnehmerInnenaristokratie, Problemgruppen des Arbeitsmarktes, Frauen und Männer, Arbeitende und Arbeitslose, Jung und Alt, InländerInnen und AusländerInnen usw.) vorangetrieben wird. Dadurch sinkt die ehemals bewusstseinsprägende Bindungsfähigkeit der Gewerkschaften bei gleichzeitiger Zunahme vielfältiger Zielkonflikte auf Seiten der ArbeitnehmerInnen.

Erschwerend kommt hinzu, dass viel mehr Konflikte als früher in den Betrieben selbst ausverhandelt werden müssen, was das Konfliktpotential zwischen den ArbeitnehmerInnen erheblich gesteigert hat. Nicht außer Acht zu lassen ist, dass in der neuen Sozialpartnerschaft im Betrieb zwischen Unternehmensleitung und BetriebsrätInnen letztere unter dem Druck des Managements und der Angst der Belegschaften verhandeln müssen. Ohne politische Unterstützung seitens der Gewerkschaft und ohne Aufbau eines dichten Kooperations- und Beratungssystems zur begleitenden Beratung und Unterstützung von BetriebsrätInnen und Belegschaft läuft die Gewerkschaft Gefahr, von der betrieblichen Interessenvertretung abgekoppelt zu werden.

Auch Probleme des gewerkschaftsinternen Interessenausgleichs sind zu bewältigen. Die Zunahme innergewerkschaftlicher Spannungen zwischen den sozialdemokratisch dominierten ArbeiterInnengewerkschaften und der Gewerkschaft der Privatangestellten sowie der ÖVP-dominierten Gewerkschaft Öffentlicher Dienst mit ihrem weit überdurchschnittlichen Organisationsgrad sind unübersehbar. Dies zeigte sich bei Meinungsunterschieden bei der Restrukturierung der Organisation des ÖGB, bei der Ablöse Hans Sallmutters als Präsident des Hauptverbandes der Sozialversicherung, beim Abstimmungsverhalten anlässlich der Pensionsreform und beim Umverteilungsverständnis in der Lohnpolitik.

Zwar ist der Rückgang bei den Mitgliederzahlen, der auch auf dem Hintergrund der Schwierigkeiten aller Großorganisationen ihren Mitgliederstand zu halten gesehen werden muss, kein Hinweis auf einen Niedergang des ÖGB. Da aber die gewerkschaftliche Organisationsmacht von der eigenen Mitgliederdichte abhängt, die Betreuung der Mitglieder zeit- und kostenintensiver wurde und sich die Gewerkschaft fast zur Gänze durch Mitgliedsbeiträge finanziert, ist der Rückgang bei den Mitgliedern ein gefährliches Alarmzeichen. Seit den 1960er Jahren ist die Mitgliederentwicklung im ÖGB rückläufig, da es nicht gelungen ist, mit dem Beschäftigtenzuwachs Schritt zu halten und die in atypische Beschäftigungsverhältnisse abgedrängten ArbeitnehmerInnen zu organisieren. Von 1970 bis Mitte der 1990er Jahre sank der Organisationsgrad von rund 60% auf 42%, seit 1995 hat der ÖGB weitere 180.000 Mitglieder verloren, auch wenn er sich seit 2000, dem Regierungsantritt von Blau-schwarz deutlich stabilisieren konnte. Der österreichische Gewerkschaftsbund liegt somit nicht mehr wie früher im europäischen Spitzenfeld, ist aber nicht zersplittert und verfügt weiterhin über das faktische Monopol der gewerkschaftlichen Interessenvertretung.

Die Mitgliederstruktur des ÖGB ist gekennzeichnet durch Überalterung. Besonders vielen RentnerInnen stehen wenige Jugendliche gegenüber. Beschäftigte der alten Industrien und des öffentlichen Dienstes sind überproportional vertreten, während Angestellte und v.a. Frauen unterrepräsentiert sind. Bei künftig weiter ansteigender Frauenerwerbstätigkeit und angesichts des Umstandes, dass gerade Frauen in atypische Beschäftigungsverhältnisse abgedrängt werden, ist die Berücksichtigung frauenspezifischer Anliegen und Interessen besonders vordringlich, will der ÖGB sie gewinnen und schlagkräftiger werden.

Die prekäre Mitgliederentwicklung gilt umso mehr für Tirol, das traditionell neben Vorarlberg den niedrigsten gewerkschaftlichen Organisationsgrad aufweist. Verantwortlich dafür ist die Dominanz schwer erschließbarer Branchen (Tourismuswirtschaft) und die ausgeprägt kleinbetriebliche Wirtschaftsstruktur sowie der immer noch hohe Anteil von Nebenerwerbsbauern unter den Industriebeschäftigten. Der ÖGB Tirol steht seit Mitte der 1980er Jahre trotz stark steigender Beschäftigtenzahlen einem verlangsamten Wachstum bei den Gewerkschaftsmitgliedern mit dem Spitzenwert von 82.315 Mitgliedern 1990 gegenüber; seither ist ein kontinuierlicher Rückgang zu verzeichnen. 2003 hatte der ÖGB Tirol 72.131 Mitglieder und rund 2.400 BetriebsrätInnen. Der Organisationsgrad, der bei nur einem Viertel der unselbstständig Beschäftigten liegt, ist somit um rund die Hälfte geringer als im gesamtösterreichischen Vergleich. Die negativen Auswirkungen dieser Entwicklung spiegeln sich in Personaleinsparungen und Zusammenlegungen von mehreren Bezirkssekretariaten des ÖGB wider, was die Betreuungstätigkeit vor Ort trotz Steigerung der organisatorischen Effizienz beeinträchtigt.

Seitdem die Sozialpartnerschaft an Bedeutung verloren hat, macht sich die Zentralisierung des ÖGB und die relativ geringe Aktivierung und Mitsprache der Basis negativ bemerkbar. Da die UnternehmerInnenverbände weit weniger kompromissbereit sind als früher und die Bundesregierung dem ÖGB nicht nur weniger Gehör schenkt, sondern versucht, seine traditionellen Einflussmöglichkeiten zu brechen, ist die Fähigkeit der Mobilisierung der Mitglieder, um eigenen Forderungen Nachdruck zu verleihen, bedeutender geworden. Dem steht eine steigende Kritik entgegen, dass Partizipationsmöglichkeiten der einfachen Gewerkschaftsmitglieder innerhalb des ÖGB erst durch die Ausübung einer Funktion als gewählter Betriebsrat oder Personalvertreter wahrnehmbar sind. Dazu kommt, dass der ÖGB in erster Linie eine Betriebsrätegewerkschaft mit geringer Frauenrepräsentation ist, was eine vorrangige politische Orientierung auf die Großbetriebe zur Folge hat, wobei die BetriebsrätInnen auch von Nicht-Gewerkschaftsmitgliedern gewählt werden. Die Umlegung der Wahlergebnisse ist problematisch, weil viele BetriebsrätInnen nicht auf Fraktionslisten stehen, die Anzahl der Namenslisten stark steigt und Wahllisten sich zunehmend erst nach der Wahl, oft im Geheimen, deklarieren. So dürften in Tirol laut Ferdinand Karlhofer rund 15% der BetriebsrätInnen und PersonalvertreterInnen keiner Fraktion zuordenbar sein.

Zu den Mitbeteiligungsmöglichkeiten einfacher Gewerkschaftsmitglieder in Zeiten stärkerer Nachfrage nach Mitsprache und größeren Autonomieerfahrungen der ArbeitnehmerInnen in den Betrieben stellte der oberösterreichische Landessekretär des ÖGB 1995 selbstkritisch fest:

„Es gibt ein ironisches Bonmot, das innerhalb des ÖGB kursiert: ‚Was machst Du, wenn ein ganz normales Mitglied kommt, und dich fragt, wo es mitarbeiten kann?‘ Diese Frage beschreibt überspitzt das Dilemma der Gewerkschaftsbewegung. Das einfache Mitglied kommt in unserem alltäglichen Handeln kaum bis gar nicht vor. Weder ist es in der Willensbildung einbezogen, noch gibt es Räume für eine Beteiligung am Leben der Organisation, abseits von den gewählten Gremien und wenn doch, haben diese Räume keinen Einfluß auf die Entscheidungen. Ist das Mitglied nur Kunde, Dienstleistungsnehmer, oder gäbe es attraktive Beteiligungsformen?“

Die Reaktion des ÖGB auf die neuen Herausforderungen

Besonders der Umstand, dass einzelne Gewerkschaften aufgrund des Mitgliederschwundes finanziell in ihrer Überlebensfähigkeit gefährdet waren, bewog den ÖGB zu einem intensiven Nachdenkprozess bezüglich einer Neuorganisation. 1991 erfolgte mit der Einrichtung des „Ständigen Organisationsausschusses“ der Beschluss zum Reformstart, infolge dessen eine interne Reorganisation auf den Weg gebracht wurde, der die Ressourcen stärker auf die Mitgliederrekrutierung und Mitgliederbetreuung lenkte. Beispielhaft dafür sind der Aufbau einer modernen EDV-Infrastruktur, eine effizientere Mitgliedererfassung, die Ausweitung des Leistungsangebots und eine Reorganisation des Publikationswesens.

Besonders die GPA übernahm eine Vorreiterrolle, die allmählich den gesamten ÖGB erfasst. Atypisch Beschäftigte und bestimmte Gruppen neuer Selbstständiger wurden in den Statuten verankert und in „Interessengemeinschaften“ zusammengefasst, die, was besonders hervorzuheben ist, auch Nicht-Gewerkschaftsmitgliedern offen stehen. Sie sind mit Delegierten in den höchsten Gremien vertreten. Diese neuen ArbeitnehmerInnengruppen erfahren seitens des ÖGB nun eine Beratung für ihre speziellen Problemlagen und ein Angebot zum Abschluss einer Kranken- und Unfallversicherung. Ein weiteres neues Strukturelement stellen die Themenplattformen dar, die nicht wie üblich auf die BetriebsrätInnen konzentriert sind, sodass auch einfache Gewerkschaftsmitglieder an der Positionierung zu bestimmten Themen aktiv mitwirken können. Dies stellt einen wichtigen Schritt vorwärts zur Mitgliederbeteiligung dar, allerdings sind die Schwierigkeiten bei der Etablierung solcher Themenplattformen durch einfache Mitglieder noch sehr groß, während die Entscheidungen weiterhin zentral in den Präsidien erfolgen. Die Allianz zwischen der GPA und den atypisch beschäftigten, streikenden FahrerInnen des privaten Fahrradbotendienstes Veloce 2004 zeigte aber jedenfalls einen wesentlichen Ansatzpunkt für eine Neuorientierung der Gewerkschaftspolitik auf.

In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass der ÖGB seit 1995 die Rechte einfacher Mitglieder durch die Verpflichtung der Abhaltung von Mitgliederversammlungen stärkt. Eine neu beschlossene Fraktionsordnung regelt erstmals die Anerkennungsmodalitäten, allerdings werden die nichtfraktionierten gewerkschaftlichen BetriebsräteInnen, die etwa in der GPA bereits mehr als die Hälfte ausmachen, nach wie vor nicht in die gewerkschaftsinterne Meinungsbildung einbezogen.

Der Bundeskongress befürwortete 1995, „gleiche, unmittelbare, geheime und persönliche Wahlen für jede Gliederung des ÖGB“ zur Regel zu machen. Wahlen von Organen und Delegierten sollen nach den Statuten von 1995 als „Gewerkschaftswahlen, bei denen nur Gewerkschaftsmitglieder wahlberechtigt sind“, durchgeführt werden. In der Tat erzielten der ÖGB bzw. einzelne Fachgewerkschaften dadurch einen Fortschritt bei der repräsentativen Demokratie innerhalb der Gewerkschaften. In der Realität harrt die Umsetzung allerdings noch vieler Schritte. Besonders außerhalb der beiden großen Fraktionen ist die Kritik nicht leiser geworden. Eine höhere Einbindung auch einfacher Mitglieder erfolgt durch diverse Mitgliederbefragungen über elektronische Medien, allerdings ohne dass über den Stellenwert der Meinungsabgabe Klarheit herrscht, und über Instrumente der direkten Demokratie. So gab es Urabstimmungen unter Gewerkschaftsmitgliedern im Pflichtschulbereich über die Einführung eines neuen Arbeitszeitmodells, über die generelle Streikbereitschaft der LehrerInnen und v.a. die eindrucksvolle Urabstimmung zu grundlegenden Themen der Gewerkschaft im Juni 2001. Beim Einsatz dieser partizipativen Beteiligungsmöglichkeiten zeigte sich aber auch überaus deutlich, wie schwer sich die Gewerkschaft damit noch tut. Die Vorgangsweise im LehrerInnenbereich, bei der massive Unstimmigkeiten bezüglich der Vorgangsweise, der Fragestellung und des Einflusses der obersten Spitze auftraten, stieß auf herbe Kritik und in Folge von Vorarlberg ausgehend sogar zu einer eigenen Bildungsgewerkschaft. Auch wenn diese wieder vor dem Zerfall steht, ist außer Zweifel, dass die Unzufriedenheit wegen mangelnder Beteiligungsmöglichkeiten groß ist und kritische ArbeitnehmerInnen abseits stehen lässt, die ein großer Gewinn für die Gewerkschaft wären.

Das Bemühen, mehr Frauen zu mobilisieren, hat zugenommen. Frauen sind aber besonders häufig in schwierig zu rekrutierenden Branchen und Arbeitsverhältnissen tätig und erfahren aufgrund ihrer Doppelbelastung in der männerdominierten Organisationskultur des ÖGB Benachteiligungen, die sich nicht zuletzt auch in ihrer Unterrepräsentanz in gewerkschaftlichen Führungspositionen niederschlagen. Auf dem ÖGB-Kongress 1995 erfolgte daher der Beschluss, mehr Sitze für Vertreterinnen der Frauenabteilung zu reservieren und sie in die Gremien entsprechend ihrem Mitgliederanteil aufzunehmen. Die GPA nahm 1997 eine Quotenregelung auf und führte 2000 das Gender Mainstreaming ein. Allmählich wird mehr Rücksicht auf die besonderen Bedürfnisse von Frauen im Schulungsbereich genommen, die Anzahl der Frauen unter den BetriebsrätInnen und GewerkschaftsfunktionärInnen steigt langsam an. Auch innerhalb der Gewerkschaftspolitik haben sich Ansätze hin zu einer intensiveren Berücksichtigung von Fraueninteressen verstärkt. Insgesamt gesehen steht der ÖGB in seinen Bemühungen um die Frauen allerdings immer noch am Anfang eines langen Weges, für den ihm angesichts des gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Umbruchs nicht mehr allzu lange Zeit zur Verfügung bleibt.

Ein großes Defizit bleibt weiterhin in seinem vollen Umfang bestehen und wurde durch die ÖGB-Reformen nicht in Angriff genommen: die Benachteiligung von MigrantInnen. Weiterhin stellen sie in nur sehr geringem Maße FunktionärInnen und mit Ausnahme der ÖBB und der Gemeindebediensteten keine BetriebsrätInnen. Die Durchsetzung des passiven Wahlrechts auf der Betriebsebene, wie dies in der BRD bereits seit über 30 Jahren der Fall ist, scheint der Gewerkschaft immer noch kein vorrangiges Anliegen zu sein. Als spezielle Zielgruppe sind sie jedenfalls in der Neupositionierung des ÖGB nicht genannt.

Das Kernstück der gewerkschaftlichen Reformen stellt die Anpassung der organisatorischen Gliederung an die gesellschaftlichen Veränderungen dar. 1995 wurde als Ziel der Zusammenschluss von ÖGB-Einzelgewerkschaften angepeilt, wobei in Folge eine Option die Etablierung von acht Branchengewerkschaften ohne Differenzierung zwischen ArbeiterInnen und Angestellten war, eine andere jene von nur mehr drei Bereichen – Industrie, private Dienstleistungen und Öffentlicher Dienst. Damit sollte auf den wirtschaftlichen Strukturwandel und die zunehmenden Unternehmensverflechtungen zwischen den Branchen reagiert und durch die Schaffung mitgliederstarker Gewerkschaften die Schlagkraft gegenüber der ArbeitgeberInnenseite erhöht werden. Sieben Einzelgewerkschaften, die bereits eng miteinander kooperieren, schlossen sich zusammen und bilden den Dienstleistungsbereich unter der Bezeichnung „infra“. Die Gewerkschaft Öffentlicher Dienst blieb als eigenständige Gewerkschaft erhalten. Die Reform, die also zu Kooperationsprojekten zwischen Gewerkschaften und gemeinsamen Verhandlungen von ArbeiterInnen- und Angestelltengewerkschaften beim Abschluss von Kollektivverträgen führte, geriet jedoch aufgrund divergierender Interessen bald ins Stocken. Sie erhielt nach der Angelobung der schwarz-blauen Bundesregierung und ihrem Frontalangriff auf die Gewerkschaft einen neuen Schub. Die Gewerkschaftschefs Hans Sallmutter (GPA) und Rudolf Nürnberger (Metall – Textil) preschten ohne vorhergehende Absprache mit ÖGB-Vorsitzenden Fritz Verzetnitsch zwecks Fusionierung ihrer Fachgewerkschaften vor und lösten eine Welle von Erklärungen zur Bereitschaft von Zusammenschlüssen aus. Die GPA begann mit vier ArbeiterInnengewerkschaften (Metall – Textil, Agrar – Nahrung – Genuss, Druck, Journalismus, Papier und Chemie) eine Kooperation als „G-5″ einzugehen.

Mit dem branchenübergreifenden Dreisäulenmodell (GÖD, infra, G-5) sollte eine größere Effizienz im innerorganisatorischen Aufbau sowie eine Stärkung der Gewerkschaft gegenüber den in Branchenclustern längst vernetzten Unternehmen in die Wege geleitet werden. Diese Entwicklung hin zu Multibranchengewerkschaften stellt ein europaweites Phänomen dar. Das Dreisäulenmodell war von Anfang an nicht unumstritten, weil dadurch die Stärkeverhältnisse zulasten der ÖGB-Zentrale und der Landesexekutiven neu verteilt worden wäre. Zudem wurde in der FCG befürchtet, dass sie in der neuen Struktur als Minderheitenfraktion an den Rand gedrängt würde. Es darf nicht vergessen werden, dass die Tiroler FCG in vier der bisher 13 Einzelgewerkschaften die Mehrheit stellt: in der mitgliederstärksten Fachgewerkschaft, der GÖD, in der Gewerkschaft der Post- und Fernmeldebediensteten, der Gewerkschaft der Gemeindebediensteten und der Gewerkschaft Kunst, Medien, Sport, Freie Berufe. Zudem ist sie auch in der GPA besonders stark vertreten. Die „schwarze“ GÖD weigerte sich im Bund und im Land strikt, mit der „roten“ Gewerkschaft der Gemeindebediensteten zu fusionieren, da dieser an sich mehr als sinnvolle Zusammenschluss die bisherige FCG-Mehrheit bedroht hätte. Diesbezüglich stellt der Politologe Ferdinand Karlhofer kritisch fest:

„Der ÖGB ist immer noch in Fraktionen gegliedert. Die Sozialdemokraten dominieren, gefolgt von den Christgewerkschaftern, alle anderen Fraktonen sind weit abgeschlagen. Alles gewerkschaftliche Handeln ist vom Machtkalkül des Stärksten und des Zweitstärksten überlagert. Weder die einen noch die anderen sind bereit, ihren Einfluss zugunsten einer Organisationsreform zu riskieren.“

Im Mai 2004 stieg die Chemiegewerkschaft aus der geplanten Fusion zur „G-5″ aus, im September platzte das Zusammengehen der GPA und der Gewerkschaft Metall, sodass nicht nur die „G-5″ scheiterte, sondern die neue Struktur des ÖGB insgesamt.

Die Ursachen für diese Entwicklung, welche die ÖGB-Zentrale und Präsident Fritz Verzetnitsch aufwertet, sieht der Politikwissenschafter Emmerich Tálos „in der traditionell ausdifferenzierten Struktur der Gewerkschaften, im Eigenleben dieser, in ihren Machtansprüchen sowie in den Beziehungen zwischen den handelnden Akteuren.“ Das ursprüngliche Vorhaben von Präsident Verzetnitsch, der 13 Teilgewerkschaften zu acht Branchengewerkschaften fusionieren und so das vom ÖGB-Vorstand im November 2001 beschlossene Prinzip „eine gewerkschaftliche Betreuung pro Betrieb“ umsetzen wollte, könnte wieder aktuell werden. Die künftige Gewerkschaftsorganisation ist nun völlig offen, eine Bündelung der Kräfte jedenfalls unumgänglich, um den neuen Herausforderungen und Umbrüchen in der Arbeitswelt gerecht werden zu können.

Wendet man sich der inhaltlichen Ebene zu, so stellen die Hauptaspekte diesbezüglicher Kritik an den ÖGB-Reformen die untergeordnete Rolle globaler und internationaler Aspekte sowie das Fehlen einer Debatte über die strategische und politische Ausrichtung der Gewerkschaft in Zusammenhang mit den weiterhin beschränkten Mitwirkungsmöglichkeiten einfacher Mitglieder dar. Damit ist v.a. gemeint, dass eine breite Diskussion darüber zu führen wäre, ob am sozialpartnerschaftlichen Konfliktlösungsmodell festgehalten werden soll oder eine gewerkschaftliche Strategie zum Aufbau einer gesellschaftlichen Gegenmacht zum Neoliberalismus ins Auge zu fassen wäre. „Solange allerdings die Frage ‚Welche neuen politischen Zielsetzungen ergeben sich aus veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen?‘ nicht gelöst ist, kann auch die Frage ‚Was sind die angemessenen organisatorischen Strukturen, die diesen Zielsetzungen dienlich sind?‘ nicht beantwortet werden.“

Die Professionalisierung innerorganisatorischer Abläufe, und die Verbesserung der Leistungen und Betreuung werden als zu einseitig kritisiert, da durch die Betonung des Servicecharakters die Gewerkschaftsmitglieder mehr als KonsumentInnen denn als AkteurInnen aufgefasst werden würden. Das in den 1990er Jahren ausgearbeitete Reformkonzept richte sich in Bezug auf die Mitgliederbeteiligung viel zu sehr auf die Sozialpartnerschaft: „Diese stellt darauf ab, dass eine geringe Anzahl an Entscheidungsträgern Vereinbarungen trifft, die nicht mehr umgestoßen werden und von oben nach unten an die Mitglieder kommuniziert werden.“

Tatsache ist jedenfalls, dass der ÖGB einige Zeit benötigte, um angesichts einer immer weniger kompromissbereiten ArbeitgeberInnenseite und einer antigewerkschaftlichen Regierungspolitik auf einen konfrontativeren Stil zu wechseln, nachdem die Bundesregierung offen das Ende der Konsensdemokratie verkündet hatte. Die Beteiligung bei der Urabstimmung 2001 war mit 800.000 TeilnehmerInnen überaus hoch. Die Bundesregierung zeigte sich daraufhin bei der „Abfertigung neu“ kompromissbereiter. Die Fähigkeit zur Mobilisierung stellte der ÖGB auch angesichts der Regierungsvorlage zur Pensionsreform und beim Streik der ÖBB unter Beweis, wie überhaupt in den Jahren 2002 und v.a. 2003 eine für Österreich ungewohnt starke Streikbewegung entstand. Auf der praktischen Ebene konnte der ÖGB dadurch Teilerfolge erzielen, scheute aber noch eine weitgehende Konfrontation, nicht zuletzt aufgrund der Divergenzen mit der christgewerkschaftlich dominierten GÖD, deren Vorsitzender als ÖVP-Mandatar im Parlament für die Regierungsvorlage in der Pensionsfrage stimmte, nachdem er für sein Klientel einige Nachbesserungen erreichen konnte. Ferdinand Karlhofer spricht mit Blick auf die Kampagnen und die Mobilisierung der Mitglieder von einer „Metamorphose der Gewerkschaft“, da sich diese identifikationsfördernd auswirkten und auch erstmals seit Jahren imstande waren, den Mitgliederschwund zu stoppen. Auf diese Weise habe sich der ÖGB im Selbstverständnis und Erscheinungsbild gewandelt. Durch den wachsenden Druck der FunktionärInnen auf der unteren Ebene wurde der ÖGB kämpferischer, sodass er nun nicht mehr wie früher als völlig verlässlicher Partner von Wirtschaft und Regierung erscheint, sondern sich auch Handlungsspielräume sucht und Aktionen jenseits des Verhandlungstisches durchführt, um so wie die UnternehmerInnenverbände stärker die Interessen seiner Mitglieder zur Geltung zu bringen.

Neue Strategien: Die Gewerkschaft als Motor eines gesellschaftlichen Gegenentwurfs

Im Folgenden sollen nun wesentliche Leitlinien solidarischer Kritik an den Gewerkschaften dargestellt werden, die auf eine Stärkung gewerkschaftlicher Politik gegen den vorherrschenden neoliberalen Mainstream abzielen.

Die bisherige sozialpartnerschaftliche Ausrichtung des ÖGB bot durchaus viele Vorteile, doch bei den bisherigen Einflussmöglichkeiten der Gewerkschaft handelt es sich quasi um eine geliehene Autorität, die nun immer mehr abhanden kommt, da das gesamte sozialpartnerschaftliche System der Nachkriegszeit von UnternehmerInnen, ihren Interessenvertretungen und den Regierungsparteien zum Teil aufgekündigt worden ist. Daran wird sich in absehbarer Zeit auch wenig ändern. Dazu kommt, dass in Europa sozialdemokratische Regierungen, auch mit „Grünen“ als KoalitionspartnerInnen, unter dem internationalen Druck der Kostensenkung und der Standortkonkurrenz einen neoliberalen Kurs steuern bzw. durch ihre Regierungsbeteiligung das Gelingen des neoliberalen Projekts durch einen Abbau des Sozialstaates, der als Standortnachteil ausgegeben wird, vorantreiben. Die Erfahrungen aus anderen Ländern lassen kaum erwarten, dass selbst eine rot-grüne Regierung in Österreich dem Neoliberalismus entschieden den Kampf ansagen würde. Der ÖGB und die in ihm eingebetteten beiden großen Fraktionen werden sich folglich von der SPÖ und ÖVP emanzipieren müssen. Die SPÖ hat bereits vor der schwarz-blauen Wende die sozialpartnerschaftliche Einbindung des ÖGB im politischen Entscheidungsprozess zurückgedrängt, seit 2000 hat sich diese Entwicklung nur drastisch zugespitzt. Beide Großparteien werden die Abschwächung des institutionellen Einflusses der ArbeitnehmervertreterInnen nicht mehr zurücknehmen wollen. Die Nähe zu den politischen Parteien hat in dieser neuen Konstellation Bruchlinien innerhalb des ÖGB auftreten lassen. Es ist unübersehbar, dass die Wendepolitik den ArbeitnehmerInnenflügel innerhalb der ÖVP enorm geschwächt und den Wirtschaftsflügel überproportional gestärkt hat. Zum einen hat diese Entwicklung der ÖVP von einer christlichsozialen hin zu einer neoliberalen Partei scharfe innerparteiliche Kritik etwa der (Vize)Präsidenten der AK in Tirol und Niederösterreich hervorgerufen, die (Ö)AAB/FCG-VertreterInnen haben jedoch die arbeitnehmerInnenfeindliche Politik ihrer Partei im Parlament stets mitgetragen. Zum anderen haben die Zustimmung des Vorsitzenden der GÖD, Fritz Neugebauer, als ÖVP-Abgeordneter zur Pensionsreform und die Diskussion rund um die so genannte „Harmonisierung“ der Pensionssysteme einen Keil in den ÖGB getrieben. Die Parteien sind gewerkschaftsfremder und neoliberaler geworden, während sich die Gewerkschaft nicht mehr auf einen Staat verlassen kann, dem Vollbeschäftigung und ein ausgebautes Sozialnetz ein Herzensanliegen wäre. So wie sich die Großparteien vom ÖGB emanzipiert haben, muss sich folglich auch der ÖGB von ihnen emanzipieren, um seinen Spielraum zu erhöhen. Denn eines scheint auch klar zu sein: Den Parteien fehlt (noch?) die Kraft eines Gegenentwurfes zum Neoliberalismus. Der ÖGB muss sich wieder auf seine eigenen sozialen Wurzeln besinnen und überwinden, woran die politischen Parteien kranken: die Übernahme unternehmerischer Markt- und Konkurrenzzwänge als Grundlage des eigenen Denkens und Handelns. Permanente Anpassung an die Standortlogik, bei der die Arbeitskräfte nicht mehr als ProduzentInnen von Reichtum, sondern als KostenverursacherInnen im Mittelpunkt stehen, höhlt systematisch den Sozialstaat, den Zusammenhalt der Gesellschaft sowie den Einfluss der Gewerkschaften im Interesse der ArbeitnehmerInnen aus. Statt einer Anpassung an die vom Markt verlangte und gesteuerte Flexibilisierung sind eigenständige Ziele seitens der Gewerkschaft anzustreben, die Klaus Dörre wie folgt angibt:

„Eine neue Arbeitsverfassung, die Perioden der Erwerbstätigkeit mit Lern-, Qualifizierungs- und Familienphasen verknüpft; ein soziales Sicherungssystem, das ‚Bastel-Biographien‘ einen stabilen Rahmen bietet; eine Demokratisierung der Geschlechterhierarchien, die Nachfrage nach hochwertigen Dienstleistungen und damit auch Arbeitsplätze schafft; eine zeitgenössische Definition ‚guter‘ Arbeit, verkoppelt mit einer neuen Generation industrieller Rechte, die auch individuelle Vertragssicherheit stiftet und die Partizipationschancen abhängig Arbeitender erhöht, gehören in das Zentrum einer solchen Politik.“

Die Gewerkschaft muss eine Politik vorantreiben, die aufzeigt, wie der Erhalt der Sozialsysteme finanziert werden kann und unterstreichen, dass sie finanziert werden können, weil die Gesellschaft reich genug ist. In Frankreich hat sich eine Diskussions- und Protestbewegung formiert, die der Globalisierung den Anspruch auf eine „Ökonomie des Glücks“ im Sinne Pierre Bourdieus entgegenhält: das Recht für alle Menschen auf soziale Sicherheit, Partizipation, Bildung und auf ein „schönes Leben“, also Glück, Wohlstand und Lebenssinn. Und dies nicht nur im Sinne der Ausgestaltung einer individuellen Lebensphilosophie, sondern als politisches Projekt zur Umgestaltung der herrschenden Verhältnisse, als einzulösender utopischer Anspruch:

„An ihm müssen sich gewerkschaftliche Strukturen, aber auch Grundpfeiler der Gesellschaft wie Staat, Recht oder ‚Wirtschaft‘ messen – und geraten dabei in prinzipielle Kritik. (…) Den vermeintlich prioritären Unternehmensinteressen wird hier das unhintergehbare Recht der Bürger auf ein glückliches Leben entgegengesetzt, eine zugegebenermaßen diffuse Kategorie, die zu füllen und zu konkretisieren man allerdings angetreten ist.“

Ein diskussionswürdiger Vorschlag einer Gruppe von SozialwissenschafterInnen um Joachim Hirsch umreißt ein Konzept des Aufbaues eines anderen Systems sozialer Sicherungen, das in Anbetracht der ungeheuren Produktivität und des gesellschaftlichen Reichtums in den kapitalistischen Zentren durchaus finanzierbar erscheint. Dabei wird dem Umstand Rechnung getragen, dass einerseits die Grundlagen des herkömmlichen Sozialstaates, eben die fordistische Arbeitsgesellschaft, bereits stark ausgehöhlt sind und eine Wiederkehr von Vollbeschäftigung, ungebrochenen (männlichen) Arbeitsbiografien und Normallohnarbeitsverhältnissen wenig wahrscheinlich ist. Andererseits wird berücksichtigt, dass der traditionelle Sozialstaat auch eklatante Schwächen hatte mit einer Tendenz, Menschen zu abhängigen KlientInnen zu machen und sie bürokratisch zu disziplinieren, zu kontrollieren und auszugrenzen. Dazu kommt, dass Frauen im bisherigen Wohlfahrtsstaatsmodell generell die Rolle der Zuverdienerin zugewiesen wurde, welche die Reproduktionsarbeit zum Funktionieren des Gesamtsystems in der Regel kostenlos zur Verfügung stellen musste. Die Grundüberlegungen für einen sozialen Systemwechsel gehen nun dahin, eine „soziale Infrastruktur“ aufzubauen, die öffentliche Güter und Dienstleistungen (Bildung, Ausbildung, Gesundheitsvorsorge, Wohnen, Verkehr etc.) allen unentgeltlich zur Verfügung stellt, die dezentral organisiert ist und bedarfsnah von den Beteiligten beeinflussbar und kontrollierbar gestaltet werden kann. Das existierende System von Sozialhilfe und Sozialversicherung wäre durch eine aus Steuern finanzierte Grundsicherung für alle abzulösen, während alles darüber Hinausgehende, wie etwa höhere Pensionen, privat zu regeln sind. Dabei gilt es aber hervorzustreichen, dass es sich bei diesem Grundeinkommen nicht um das neoliberale Projekt der Ruhigstellung und bürokratischen Kontrolle der massenhaft Ausgegrenzten auf niedrigem Niveau handelt, sondern um etwas völlig Neuartiges:

„Im Zentrum steht die soziale Infrastruktur, die notwendige Güter und Dienstleistungen kostenlos für alle zur Verfügung stellt und die dezentral und demokratisch verwaltet werden muss. Nur im Kontext dieser materiellen Infrastruktur macht die Grundsicherung einen Sinn. Für sie sind drei Prinzipien maßgebend: Sie muss ausreichend hoch sein, also weit mehr abdecken als ein minimales materielles Existenzvineau; sie muss für alle zur Verfügung stehen und sie muss bedingungslos, d.h. ohne Nachweise und Kontrollen zur Verfügung gestellt werden.“

Ein derartig weitreichendes Projekt eines „radikalen Reformismus“ erfordert natürlich erhebliche politisch-soziale Kämpfe, große steuerliche Umverteilungen, ein Abgehen von einer die Umwelt zerstörenden Wegwerfgesellschaft und von verschwenderischen, noch dazu friedensgefährdenden Rüstungsausgaben für die Fähigkeit zu imperialen Militärinterventionen:

„Dies ist nur als schrittweiser Prozess vorstellbar, weil es auch um die Veränderung von Wertvorstellungen und Verhaltensroutinen geht. Die Verwirklichung eines derartigen Konzepts würde deshalb scheitern, wenn versucht würde, es von oben, über die Köpfe der Menschen hinweg durchzusetzen. Es bedarf also einer sozialen Bewegung, die nicht nur politische Kraft entfaltet, sondern alltagspraktisch wirksam wird. Es geht (…) darum konkreter auszubuchstabieren, dass solche Veränderungen notwendig und möglich sind. Ob und wie sie Wirklichkeit werden, hängt davon ab, dass sich in der Gesellschaft selbst neue Denkhorizonte und neue Formen sozialer Praxis durchsetzen.“

Dem soeben kurz skizzierten Konzept einer „sozialen Infrastruktur“ mit Grundsicherung auf hohem Niveau stehen eine Reihe von Vorschlägen anderer Gruppen und Organisationen zur Weiterentwicklung des Sozialstaates gegenüber, die in verschiedenen Zusammenhängen diskutiert werden, um gesellschaftliche Alternativen aufzuzeigen. Wesentlich ist jedenfalls, die Darstellung der bestehenden Verhältnisse und laufenden Entwicklungen als naturgegebene Sachzwänge zurückzuweisen und das Bewusstsein der Menschen wieder dahingehend zu stärken, dass Bestehendes zugunsten der ArbeitnehmerInnen verändert werden kann, dass eine andere Welt durchaus möglich ist. Der kulturellen Dimension des neoliberalen Projektes, „der erfolgreichen Durchdringung sämtlicher Lebensbereiche mit dem marktideologischen Wertekanon der Wettbewerbsgesellschaft“, muss ein neues Denken und Handeln entgegengesetzt werden. Doch dies benötigt auch eine neue strategische und politische Ausrichtung der Gewerkschaften, die erstens den Anspruch auf eine Einflussnahme auf die gesamtgesellschaftliche Entwicklung enthält, zweitens die Kooperation mit neuen BündnispartnerInnen sucht und drittens die stärkere Einbindung der Basis erfordert.

Dieser Strategiewechsel kann umschrieben werden mit den Schlagworten Gegenmacht zum Neoliberalismus, Erarbeitung gesellschaftlicher Gegenentwürfe zur Sachzwanglogik des „Wettbewerbskorporatismus“, Demokratisierung von Wirtschaft, Staat, Gesellschaft und der Gewerkschaft selbst (Interessenpolitik mit und nicht nur für Gewerkschaftsmitglieder/n unter Einschluss nichtorganisierter ArbeitnehmerInnen) sowie Öffnung bzw. Offenheit der Gewerkschaft nach innen und außen (Einbindung von Frauen, atypisch Beschäftigten, unselbstständig Selbstständigen, MigrantInnen und sozialen Bewegungen).

In der Mitgliederbilanz des ÖGB spiegelt sich, wie bereits erwähnt, eine starke Überalterung der Mitgliederstruktur wider, während der Anteil der jungen Menschen stark rückläufig ist, auch wenn der ÖGB in letzter Zeit etwas gegensteuern konnte. Ein Haupthindernis für Junge sind die geringen Teilhabemöglichkeiten innerhalb des ÖGB. Generell ist nicht ihr Solidaritätsempfinden im Vergleich zu früheren Generationen stark zurückgegangen, sondern sie finden sich wegen des Demokratiedefizits der Gewerkschaft und der als unmodern empfundenen Gewerkschaftskultur innerhalb des ÖGB nicht wieder. Ihre Bereitschaft zu einem Engagement in vielfältigen und v.a. auch neuen Formen stellt die Protestbewegung gegen die schwarz-blaue Bundesregierung und gegen die vorherrschende Form der Globalisierung unter Beweis, die sehr stark von Jugendlichen getragen ist. „Die Stärke dieser zivilgesellschaftlichen Protest- und Organisationsformen liegt jedoch gerade in der verhältnismäßigen Offenheit dieser Organisationen und in – zumindest im Selbstverständnis – ausgeprägten demokratischen Strukturen.“

Wenn die Gewerkschaft einen generellen Wechsel in der Wirtschafts-, Sozial- und Steuerpolitik durchsetzen will, wird sie ihre Bündnisfähigkeit mit anderen Verbänden, Institutionen und Bewegungen ausbauen müssen. Von besonderer Bedeutung ist die globalisierungskritische Bewegung, deren Widerstand sich auf wesentliche Widersprüche neoliberaler Politik richtet:

1. Gegen den Widerspruch zwischen Großkapital und Demokratie, da Weltbank, Welthandelsorganisation (WTO), Internationaler Währungsfonds (IWF), Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und EU, indem sie dem Kapital uneingeschränkte Bewegungsfreiheit einräumen, die Demokratie ebenso aushöhlen wie ArbeitnehmerInnenrechte und die soziale Absicherung der Bevölkerung.

2. Gegen den Abbau des Sozialstaates und die Intensivierung der Arbeit und der Ausbeutung, die sich nicht zuletzt in zunehmender Armut widerspiegelt.

3. Gegen die wachsende Ausbeutung und Diskriminierung von Frauen, die von den Auswirkungen neoliberaler Politik besonders betroffen sind und gegen neue Formen der globalen Ausbeutung der Arbeit, speziell in der Sexindustrie, die ungeheure Ausmaße annimmt.

4. Gegen eine „Biopolitik“, die auf eine Monopolisierung der Kontrolle über die Nahrungsmittel und den menschlichen Körper abzielt und gegen die fortschreitende ökologische Zerstörung.

5. Gegen die „neue Weltordnung“ mit ihrer neoimperialen, aggressiven Geopolitik.

Durch spektakuläre Aktionen (Weltsozialforum, Europäisches Sozialforum, Aktivitäten von Organisationen wie Attac usw.) gelingt es dieser Protestbewegung, die Aufmerksamkeit auf die Widersprüche des neoliberalen Globalisierungsprojektes zu lenken. Frank Deppe weist darauf hin, dass Losungen wie „Die Welt ist keine Ware“ sowie „Eine andere Welt ist möglich“ eine utopische Dimension enthalten, die v.a. für jüngere Menschen eine Anziehungskraft entfaltet – eine Dimension, die, möchte man ergänzen, den Parteien und den Gewerkschaften selbst abhanden gekommen ist. Die Heterogenität der Bewegung und ihre Spontaneität bei den Großveranstaltungen und Großdemonstrationen wirkt sich gerade auch auf jene jungen Leute positiv aus, die nicht vorschnell von bürokratisierten Organisationen vereinnahmt werden wollen. Deppe stellt die Vorteile ihrer höheren Beweglichkeit den Vorteilen der Durchschlagskraft einer hoch zentralisierten Institution wie der Gewerkschaft gegenüber und fordert eine Kooperation, die weder Verschmelzung noch Unterordnung anpeilt, sondern Synergieeffekte zu erzeugen sucht. Die globalisierungskritische Bewegung ist gerade deshalb für die Gewerkschaften von Bedeutung, weil sie mit ihrer Kritik am neoliberalen Globalisierungsprojekt und seinen Folgen zugleich die Tradition einer Kapitalismuskritik und der darin enthaltenen Vision einer „besseren Welt“ erneuert. Zugleich vermittlelt der tatsächlich globale (internationale) Charakter dieser Bewegung die Erkenntnis, dass in Zukunft Strategien für eine Veränderung bestehender Herrschaftsverhältnisse stets in grenzüberschreitenden Dimensionen konzipiert und praktisch durchgesetzt werden müssen.

Um dem Neoliberalismus, der bereits fest im Alltagsverständnis verankert ist und über das „Standortdenken“ auch in den Betrieben verinnerlicht wird, mit alternativen Konzepten begegnen zu können, muss Druck von unten erzeugt und eine Gegenöffentlichkeit hergestellt werden, die gesellschaftliche Alternativen zur herrschenden Logik und den „Sachzwängen“ möglich erscheinen lässt. Eine Rückbesinnung auf die eigenen Wurzeln und die eigene Stärke benötigt aber auch einen Abbau der immer noch vorhandenen Reserviertheit gegenüber Intellektuellen in der Gewerkschaft. Um der ideologischen Vorherrschaft des Neoliberalismus etwas entgegenzusetzen, bedarf es ebenso verstärkter Bündnisse mit Teilen der Mittelklasse-Intelligenz und der in den Universitäten und Forschungseinrichtungen tätigen WissenschafterInnen. Will die Gewerkschaft tatsächlich eine Gegenöffentlichkeit herstellen, so braucht es einen „Think Tank“ für alternative Konzepte und kritisches Denken.

Dass sich die Gewerkschaft stärker als politisch-progressive Kraft profilieren und sich für gesamtgesellschaftliche Themenfelder zuständig fühlen muss, weit über den Bereich der Arbeitswelt im engeren Sinne hinaus, ist offenkundig. Die Aushöhlung sozialer Standards und materieller Errungenschaften zugunsten finanzieller Renditen und einer Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse erzwingt eine Ausweitung der politischen Aufgabenfelder der Gewerkschaft, will sie auf die Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen Einfluss nehmen können. Da die Gewerkschaft über die eigenen Mitglieder hinaus gesellschaftliche Zustimmung bekommen und durch eigene Antworten auf die aktuellen Probleme überzeugen muss, ist eine Strukturdebatte um innergewerkschaftliche Demokratisierung, eine konsequente Internationalisierung und die noch viel stärkere Vertretung von Frauen, MigrantInnen, atypisch Beschäftigten und Arbeitslosen unumgänglich. Wenn die Gewerkschaft mit der Anpassung an die neoliberale Marktlogik durch das offensive Vorantreiben eigener Projekte brechen will (Neuverteilung von Arbeit, Neubestimmung des Solidaritätsbegriffs, Grundwertedebatte, Überwindung des shareholder-Kapitalismus, Ausbau des Sozialstaates, Auseinandersetzung über öffentliche oder privat herzustellende bzw. anzubietende Güter und Dienstleistungen, Umverteilung, Kampf gegen Armut, Internationalismus etc.), müssen die traditionellen Praktiken gewerkschaftlicher Organisierung und Vertretung der ArbeitnehmerInnen hinterfragt werden. Die politische Ausrichtung der Gewerkschaften muss in alle Basisgliederungen hinein als eine Angelegenheit der Mitglieder bzw. der Lohnabhängigen generell diskutiert werden, will sich die Gewerkschaft nicht nur auf die eine oder andere Verbesserung beschränken, sondern den Anspruch auf die Durchsetzung einer prinzipiell anderen, weitergehenden gesellschaftlichen Möglichkeit samt einer utopischen Dimension erheben.

Durch eine demokratische Öffnung der Gewerkschaft könnte eine Repolitisierung der Gewerkschaftsarbeit stattfinden. Dazu wären Konzepte zu entwickeln und neue Aktionsformen außerhalb der gängigen Strukturen, die nicht immer auf die große Masse zielen, aber in die Öffentlichkeit und in die Bevölkerung hineinwirken, nötig. Generell bedeutet ein verstärkt gesamtgesellschaftliches Engagement der Gewerkschaft mit neuen strategischen BündnispartnerInnen und neuen Aktionsformen keineswegs ein Abgehen von ureigenen Aufgaben der Gewerkschaften in der Lohn-, Beschäftigungs- und Umverteilungspolitik, denn: „Wer nicht in der Defensive stark ist, wird niemals zur Offensive übergehen können“ bzw. wird als politische Kraft in Verhandlungssystemen (auch mit der Regierung) nicht ernst genommen.

Stark beeinflusst von den Überlegungen von Pierre Bourdieu werden in Frankreich seit längerem die Zunahme von Angst, Unsicherheit, sozialer Spaltung und „Prekarisierung“, die alle trifft, auch die, die noch über gesicherte Einkommen verfügen, auf breiter Basis diskutiert. Stefanie Hürtgen fasst die französische Diskussion wie folgt zusammen:

Unter den Begriff der „Prekarisierung“ werden alle negativen Auswirkungen der Globalisierung bzw. des Neoliberalismus subsummiert, insbesondere die Gefahr eines allgemeinen sozialen Niedergangs, der in Form von Verunsicherung, Auflösung sozialer Bindungen sowie materieller und geistiger Verarmung breite soziale Schichten in Mitleidenschaft zieht. Die eigentlichen Auswirkungen und Ziele der Umstrukturierung in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik lassen sich auf zwei Ebenen festmachen: Zum einen erfasst wie erwähnt die „Prekarisierung“ auch besser gestellte Schichten und die Kernbelegschaften in den Betrieben, während die positiven Seiten der Flexibilisierung auf sehr spezifische, zahlenmäßig begrenzte Gruppen beschränkt bleiben. Zum anderen ist es das Ziel des Neoliberalismus, die Lohnabhängigen zu spalten und sie in einem Klima der Angst und der Verunsicherung in eine gnadenlose gegenseitige Konkurrenz zu hetzen, ihre Solidarität zu brechen, um sich neben einer Profitmaximierung so die politische Oberhoheit zu sichern. Daher, so die Schlussfolgerung, besteht die oberste gewerkschaftliche Aufgabe darin, den gemeinsamen Kampf gegen die neoliberale Ausgestaltung der Globalisierung, dessen Produkt die „Prekarisierung“ ist, aufzunehmen. Erfolgreich kann diese Auseinandersetzung aber nur dann sein, wenn die Ursache der eigenen Schwächung, die zerstörerische Konkurrenz unter den Arbeitskräften, überwunden wird. Folglich gilt es den sozialen Zusammenhang der betroffenen ArbeitnehmerInnengruppen herauszuarbeiten, um durch das Erkennen gemeinsamer Interessen ein gemeinsames Handeln zu ermöglichen. In den jeweiligen Auseinandersetzungen müssen daher die eigenen Anliegen stets in Zusammenhang zu den Problemlagen anderer Gruppen gestellt werden. Deshalb wird auch von jenen Solidarität eingefordert, die als „hilfsbedürftig“ erscheinen, denn die „übergreifende Solidarisierung wird zum zentralen Maßstab der Beurteilung von sozialen und gewerkschaftlichen Bewegungen.“

Auch der französische Ansatz unterstreicht, dass sich die Gewerkschaft sozialen Protestbewegungen öffnen muss, neue Organisationsformen des Protestes zu überlegen hat und in breiten Diskussionsprozessen Entscheidungen über Aktionen, Forderungen und das weitere Handeln mit der Basis herstellen muss. Dies benötigt eine Zusammenarbeit mit allen, die sich gegen neoliberale Politik wenden und von ihr betroffen sind und zielt auf ein Gewerkschaftsverständnis ab, das ständig nach dem sucht, was eint und nicht was trennt, das gemeinsame Forderungen formuliert, Meinungsunterschiede feststellt, um dann auf der Grundlage von Gemeinsamkeiten Politik zu machen und Aktionen durchzuführen.

Wenn sich Gewerkschaften mit anderen fortschrittlichen politischen, sozialen und kulturellen Bewegungen vernetzen, sich als Teil eines internationalen Prozesses sehen, auf europäischer Ebene handlungsfähig werden, Gewerkschaftspolitik als offenen Prozess der Politisierung unter aktiver Beteiligung ihrer Mitglieder und aller Aktiven formulieren, ein eigenes Gegenprojekt zum Neoliberalismus in Angriff nehmen im Sinne der Gestaltbarkeit und Veränderung der Gesellschaft hin zu sozialer und ökologischer Wohlfahrt, dann ist es möglich, die Vorherrschaft eines „Europas der Konzerne“ zu erschüttern und ein „soziales Europa“ zu erkämpfen. Grundvoraussetzung dafür ist, dass die Gewerkschaft dies selbst für durchsetzbar hält, um mit einem langen Atem die Weichen dafür zu stellen.